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Wenn Gletscherseen ausbrechen – Feldforschung in Alaska am Puls des Klimawandels

Der Desolation Lake ist ein Eisstausee im Glacier-Bay-Nationalpark. Die Forschenden reisten mit einem Wasserflugzeug an.
„Ohne unsere lokalen Partner aus Kanada und Alaska wäre die Reise fast unmöglich gewesen“, ist Georg Veh sicher. Als Glücksgriff erwies sich die Idee, die Feldarbeit filmisch zu begleiten: Greg Chaney, Kameramann aus Juneau, der die Gruppe begleitete, war zugleich outdoorerfahren – und echter Kenner der einzigartigen Gletscherlandschaft.
Im Mai 2023 stieg das Team ins Flugzeug, in der Hoffnung auf milde, frühsommerliche Bedingungen. Doch es regnete viel, das Camp wurde überschwemmt und musste anderswo neu aufgebaut werden.
Blick aus dem Zelt.
Die Forschenden haben den Gletscher mithilfe von Radar vermessen.
Der Desolation Lake.
Blick auf den Lituya Gletscher: Noch ragt die Eisfront etwa 40 bis 50 Meter aus dem Wasser.
Gesteinsbrocken
Natalie Lützow durchquert den Schmelzwasserstrom des Lituya-Gletschers.
Photo : Natalie Lützow
Der Desolation Lake ist ein Eisstausee im Glacier-Bay-Nationalpark, der mit 13.287 Quadratkilometern nur wenig kleiner als Schleswig-Holstein ist. Eine einzige Straße führt in den Park, zum See mussten die Forschenden mit einem Wasserflugzeug anreisen.
Photo : Natalie Lützow
„Ohne unsere lokalen Partner aus Kanada und Alaska wäre die Reise fast unmöglich gewesen“, ist Georg Veh sicher. Als Glücksgriff erwies sich die Idee, die Feldarbeit filmisch zu begleiten: Greg Chaney, Kameramann aus Juneau, der die Gruppe begleitete, war zugleich outdoorerfahren – und echter Kenner der einzigartigen Gletscherlandschaft.
Photo : Natalie Lützow
Im Mai 2023 stieg das Team ins Flugzeug, in der Hoffnung auf milde, frühsommerliche Bedingungen. „Den Gefallen hat uns Alaska nicht getan“, sagt Georg Veh. Die Wildnis erwies sich als solche. Es regnete viel, das Camp wurde überschwemmt und musste anderswo neu aufgebaut werden. Doch das hielt die Forschenden nicht von ihrem Programm ab. Zehn Tage lang sammelten sie so viele Daten wie möglich.
Photo : Natalie Lützow
Es brauchte Genehmigungen, Ausrüstung für zwei Wochen Wildnis – vom Flugzeug über Zelt und Schlafsack bis zu Nahrung und Wasser. Sogar aufblasbare Boote waren im Gepäck.
Photo : Georg Veh
„Uns interessiert, wie sich der Klimawandel auf die Gletscherseen und ihre Ausbrüche auswirkt“, erklärt Georg Veh. „Der Desolation Lake könnte dabei eine Schlüsselrolle einnehmen. Denn die Eismasse der umliegenden Gletscher schmilzt sehr schnell.“ Deshalb nahmen die Forschenden den Lituya-Gletscher, der den See aufstaut, genauer unter die Lupe: Wie dick ist das Eis? Wo liegt das Gletscherbett?
Photo : Georg Veh
Im Desolation Lake, der vom Lituya Gletscher aufgestaut wird, installierten die Forschenden einen Drucksensor, der Schwankungen des Seespiegels aufnimmt. So können sie nachvollziehen, wie sich der See allmählich füllt und dann plötzlich innerhalb weniger Stunden fast komplett entleert. Etwa drei Wochen nach dem Aufenthalt des Teams geschah der nächste Ausbruch.
Photo : Georg Veh
Blick auf den Lituya Gletscher: Noch ragt die Eisfront etwa 40 bis 50 Meter aus dem Wasser. Je höher das Wasser des steigt, desto eher näher kommt der Punkt, an dem der Gletscher auf dem See zu schwimmen beginnt, weil Eis eine geringere Dichte als Wasser hat. Wenn dieser kritische Punkt erreicht ist, beginnt der Desolation Lake, sich schlagartig zu entleeren.
Photo : Georg Veh
Der Desolation Lake ist zwölf Quadratkilometer groß und enthält rund 500 Millionen Kubikmeter Wasser. Wenn er ausbricht, was seit 1972 mindestens 48 Mal passiert ist, ergießt sich ein Großteil seines Inhalts durch die Täler in Richtung Bucht. „Dabei führt jede einzelne Flut Unmengen Sediment mit sich“, erklärt Natalie Lützow. „Dazu zählen auch schon mal Gesteinsbrocken so groß wie ein Truck.“
Photo : Georg Veh
Selbst ohne katastrophale Ausbrüche produziert der Lituya Gletscher kontinuierlich gigantische Schmelzwasserströme, die sich über sein vorgelagertes Delta ergießen. Nur am Vormittag, wenn die Temperaturen und die Gletscherschmelze niedrig sind, lassen sich die Schmelzwasserbäche passieren. Die Fotos zeigen, wie Natalie Lützow einen dieser Bäche auf dem Lituya-Delta überquert.

Am 1. August 2024 herrscht Katastrophenalarm in der US-amerikanischen Stadt Juneau. Binnen kürzester Zeit schwillt der Mendenhall-River an, gewaltige Wassermassen ergießen sich in das gleichnamige Tal und überschwemmen die Stadt. Die Straßen stehen tagelang unter Wasser, Hunderte Häuser werden zerstört. Doch Ursache der Katastrophe sind nicht, wie etwa beim Ahrtal-Hochwasser 2021 in Deutschland, anhaltende oder starke Regenfälle, sondern ein Gletschersee, der sich ausbruchsartig entleert. Überall auf der Welt stauen sich an Rändern von Gletschern Seen auf, deren Inhalt irgendwann, wenn die natürlichen Barrieren dem Druck nicht mehr standhalten, zu großen Teilen abfließt. Dort, wo es flussabwärts menschliche Siedlungen gibt, stellen diese Ausbrüche eine große Gefahr da. Wie beim Suicide Lake oberhalb von Juneau, in dem sich Wasser vom abschmelzenden Mendenhall-Gletscher sammelt – und das regelmäßig abfließt. Wann ein solcher Ausbruch passiert, lässt sich bislang aber kaum vorhersagen. Weil sie so gravierende Folgen haben können, nehmen Forschende seit einiger Zeit Gletscherseeausbrüche überall auf der Welt intensiv unter die Lupe. Auch ein Team vom Institut für Erd- und Umweltwissenschaften begibt sich in dieser Mission schon mal ans andere Ende der Welt.

Im Frühsommer 2023 reisten Doktorandin Natalie Lützow, Professor Oliver Korup, sowie Projektleiter Dr. Georg Veh in den Südosten Alaskas, um dort – fernab jeglicher Zivilisation – knapp zwei Wochen lang den Desolation Lake zu vermessen. Siedlungen gibt es dort weit und breit keine, wenn der See ausbricht, fließt das Wasser in die Lituya Bay. Was interessiert sie also gerade an diesem See? „Der Desolation Lake liegt in ungewöhnlich steilem Terrain“, sagt Georg Veh. Das Gelände ist enorm schroff, es geht innerhalb von nur wenigen Kilometern vom Meeresspiegel steil bergauf bis auf 5.000 Meter, in den engen Tälern liegen Gletscher mit Seen, die regelmäßig ausbrechen. Außerdem ist die Gegend seismisch hochaktiv: Es gibt regelmäßig Erdbeben, das Gestein bröckelt, die Landschaft verändert sich in relativ kurzer Zeit. „Für Geomorphologen eine superspannende Gegend!“ Ein Urteil, das auch auf den See und seine Ausbrüche zutrifft: Der Desolation Lake ist zwölf Quadratkilometer groß und enthält rund 500 Millionen Kubikmeter Wasser. Wenn er ausbricht, was seit 1972 mindestens 48 Mal passiert ist, ergießt sich ein Großteil seines Inhalts durch die Täler in Richtung Bucht. „Dabei führt jede einzelne Flut Unmengen Sediment mit sich“, erklärt Natalie Lützow. „Dazu zählen auch schon mal Gesteinsbrocken so groß wie ein Truck.“

Auf in die Weiten Alaskas

Es sind die schieren Ausmaße solcher Ausbruchsfluten, wegen denen die Potsdamer Forschenden eine so weite Reise auf sich nehmen: „Wer Naturgefahren erforschen will, muss vor allem die ‚worst cases‘ im Blick haben“, erklärt Georg Veh. „Und da sind wir beim Desolation Lake schon ziemlich nah dran.“ Dass hier keine Gebäude „im Weg stehen“, ändert nichts an der Transport- und Zerstörungskraft des Wassers. Und die lasse sich an der Landschaft recht gut „ablesen“. Außerdem würden Seen in der Nähe von Siedlungen bereits relativ gut erforscht und überwacht. In Juneau etwa gebe es ein fortlaufendes Monitoring des Suicide Basin. Das könne die Überschwemmungen zwar nicht verhindern, aber den Menschen helfen, sich darauf vorzubereiten. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass bei der Flut im August 2024 niemand ums Leben kam. Auch anderswo wird zu den Gefahren, die von Gletscherseen ausgehen, intensiv geforscht. In dichter besiedelten Regionen im Himalaya etwa. „Sobald dort ein Gletschersee ausbricht, sind Forschungsteams vor Ort, um sie zu untersuchen. Der Forschungsdruck ist in manchen Regionen relativ hoch“, sagt der Wissenschaftler. „Alaska ist im Vergleich dazu ein recht weißer Fleck auf der Landkarte.“

Diese Lücke wollten Georg Veh und Natalie Lützow schließen und machten sich kurzerhand auf den Weg an die Ostküste Alaskas. „So einfach war es leider nicht“, sagt Natalie Lützow. „Es brauchte viel Vorbereitung, ehe wir endlich vor Ort waren.“ Der Desolation Lake ist ein Eisstausee im Glacier-Bay-Nationalpark, der mit 13.287 Quadratkilometern nur wenig kleiner als Schleswig-Holstein ist. Eine einzige Straße führt in den Park, zum See mussten die Forschenden mit einem Wasserflugzeug anreisen. Es brauchte Genehmigungen, Ausrüstung für zwei Wochen Wildnis – vom Flugzeug über Zelt und Schlafsack bis zu Nahrung und Wasser – und Ortskundige. Sogar aufblasbare Boote waren im Gepäck. „Ohne unsere lokalen Partner aus Kanada und Alaska wäre das fast unmöglich gewesen“, ist Georg Veh sicher. Als Glücksgriff erwies sich die Idee, die Feldarbeit filmisch zu begleiten: Ein Kameramann aus Juneau, der die Gruppe begleitete, war zugleich outdoorerfahren – und echter Kenner der einzigartigen Gletscherlandschaft. Auch eine Einweisung über den richtigen Umgang mit Bären, die dort heimisch sind, war Pflicht. „Es dürfte mindestens 50 Kilometer rund um den See außer uns kein Mensch gewesen sein“, so Natalie Lützow. „Da war es schon wichtig zu wissen, was zu tun ist, wenn ein Bär sich unserem Camp nähert.“

Im Mai 2023 stieg das Team ins Flugzeug, in der Hoffnung auf milde, frühsommerliche Bedingungen. „Den Gefallen hat uns Alaska nicht getan“, sagt Georg Veh. Die Wildnis erwies sich als solche. Es regnete viel, das Camp wurde überschwemmt und musste anderswo neu aufgebaut werden. Doch das hielt die Forschenden nicht von ihrem Programm ab. Zehn Tage lang sammelten sie so viele Daten wie möglich. „Uns interessiert, wie sich der Klimawandel auf die Gletscherseen und ihre Ausbrüche auswirkt“, erklärt Georg Veh. „Der Desolation Lake könnte dabei eine Schlüsselrolle einnehmen. Denn die Eismasse der umliegenden Gletscher schmilzt sehr schnell.“

Gletscherseeausbrüche vermessen – mit Radar und Maßband

Deshalb nahmen die Forschenden den Lituya-Gletscher, der den See aufstaut, genauer unter die Lupe: Wie dick ist das Eis? Wo liegt das Gletscherbett? Wie viel Eis schmilzt tatsächlich ab – und wie verändert sich dadurch der Gletschersee? Die Ausbrüche des Sees selbst lassen sich im Wesentlichen an ihren Spuren rekonstruieren: Wo ist der See genau ausgebrochen? Welchen Weg hat das Wasser genommen? Wie viel Sediment hat es transportiert? Auch wenn vieles davon mithilfe von Satellitendaten beantwortet werden kann, ist ein Blick vor Ort wichtig. So hat das Team einige der größten Gesteinsbrocken aus dem Flutbett genau vermessen: „Indem wir vor Ort erhobene Daten mit denen der Fernerkundung kombinieren, können wir solche Fluten besser verstehen“, sagt Georg Veh. „Und das wiederum könnte helfen, Gefahren zu erkennen und größere Katastrophen vorzusagen, sodass rechtzeitig Maßnahmen ergriffen werden können, um sie zu verhindern oder sich zumindest rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.“

Von der Reise zehren Georg Veh und Natalie Lützow bis heute, nicht nur, weil es eine eindrucksvolle Erfahrung war. Natalie Lützow promoviert zum Gletschersee oberhalb der Lituya Bay, ein erstes Paper ist unlängst erschienen. „Dabei konnte ich zeigen, wie sich der Desolation Lake über Jahrzehnte hinweg durch die Ausbrüche verändert hat“, sagt sie. „Viele Eisstauseen werden kleiner, je öfter sie sich entleeren. Der Desolation Lake entwickelt sich genau in die andere Richtung: Die Wassermenge seiner Ausbrüche hat sich im Laufe von knapp 50 Jahre verdreifacht.“ Das ist bemerkenswert, weil der Gletscher, der den See aufstaut, rapide abschmilzt. Bei anderen Eisstauseen führt das Schmelzen des dämmenden Gletschers eher dazu, dass auch die Seen schrumpfen. Als Ursache für diese Anomalie macht die Forscherin die besondere Topografie der Region aus: Die zurückweichenden Gletscher geben dem Desolation Lake Platz, mehr Wasser anzusammeln. „Indem wir Täler identifizieren, in denen ähnliche eistopografischen Bedingungen entstehen könnten, lassen sich katastrophale Schäden verhindern, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten durch das Versagen von Eisdämmen immer wieder entstanden sind.“

Auch Georg Veh wertet die Daten aus Alaska weiter aus, wobei er sich vor allem für den Vergleich zu anderen Gletscherseen überall auf der Welt interessiert. „Wir haben eine Datenbank zu Ausbruchsfluten, in die wir die Erkenntnisse unserer Reise eingetragen haben“, erklärt er. „Denn es ist wichtig, möglichst verschiedene Informationen zusammenzuführen, um allgemeine Muster erkennen zu können.“

Neue Erkenntnisse machen Vorhersagen präziser

Unlängst ist er der Frage nachgegangen, ob die Gefahr von größeren Gletscherseeausbrüchen steigt, weil infolge des Klimawandels überall auf der Welt Gletscher abschmelzen. Also: Gibt es mehr und größere Gletscherseen, die auch – mit gravierenderen Folgen – ausbrechen? „Nicht unbedingt“, sagt er. „Denn die Gefährdung für solche Fluten wird nicht allein durch die zunehmende Zahl und Fläche von Gletscherseen bestimmt.“ Dafür wertete er gemeinsam mit anderen Forschenden Satellitenbilder von fast 1.700 dokumentierten Gletscherseeausbrüchen in 13 Gletscherregionen der Welt über den Zeitraum von 1990 bis 2023 aus. Es zeigte sich, dass die Flächen von Eisstauseen vor dem Ausbruch kleiner werden, während diejenigen von moränen-gedämmten Seen weitgehend konstant blieben. „Einige Seen haben über die Zeit einen breiten Auslass entwickelt. Andere, vor allem in den Alpen, Peru und Norwegen, wurden künstlich mit Staumauern verstärkt, um sie intensiv für Wasserkraft zu nutzen“, so Georg Veh. Solche Veränderungen trügen dazu bei, dass Fluten tendenziell von kleineren Seen ausbrechen, auch wenn die Seeflächen global gesehen zunehmen. „Klimawandel, Gletscherschwund und Naturgefahren sind aber zweifelsohne eng miteinander verknüpft – und es ist wichtig, diese Prozesse kontinuierlich zu überwachen.“ Eine zentrale Rolle spielt dabei die Fernerkundung. Mit hochaufgelösten, täglich aufgenommenen Satellitenbilder lässt sich das Wachstum von Gletscherseen gut überwachen – und eine wertvolle Grundlage für das Risikomanagement in bergigen Regionen schaffen. Aber Forschungsreisen, etwa in die entlegenen Weiten Alaskas, werden dadurch nicht überflüssig, ist er sicher. „Wissenschaft muss die Phänomene immer auch aus der Nähe betrachten.“

Der Film zur Forschungsreise in die Lituya Bay: https://videoup.uni-potsdam.de/Panopto/Pages/Viewer.aspx?id=065d8338-8c41-453c-87c1-b29000a7c456

Die Studie zu Gletscherseeausbrüchen von Georg Veh: https://www.uni-potsdam.de/de/medieninformationen/detail/2025-02-18-gletscherschmelze-studie-zeigt-seeflaechen-wachsen-aber-fluten-gibt-es-von-kleineren-seen