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Die Muse aus dem Briefkasten – Leonello Bazzurro erforscht die sozialen Netzwerke der Avantgardekünstler zu Zeiten des Eisernen Vorhangs

Der Kulturwissenschaftler Leonello Bazzurro.
Visuelle Poesie des deutsch-chilenischen Künstlers Guillermo Deisler.
Photo : Thomas Roese
Der Kulturwissenschaftler Leonello Bazzurro.
Photo : Thomas Roese
Visuelle Poesie des deutsch-chilenischen Künstlers Guillermo Deisler.

Manchmal steckt der Zauber im Alltäglichen. Ein Stempel beispielsweise macht aus einem schnöden Stück Papier ein offizielles Dokument. Er kann ein beliebiges Objekt in Eigentum verwandeln oder sogar den ganzen Status einer Person verändern. Und jeden, der sich dafür interessiert, auf eine ganz besondere Reise schicken – so wie Leonello Bazzurro.

Als der Kulturwissenschaftler im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Fluxus- und Avantgardekünstlern auf kreativ gefälschte Stempel aus der chilenischen Nationalbibliothek stößt, ahnt er noch nicht, dass sie ihn auf die Spuren und Abwege eines transatlantischen Untergrund-Netzwerks von Kunstaktivisten führen würden – und an die Universität Potsdam, und zwar auf Einladung von Romanistikprofessorin Jenny Haase. Für sein vom DAAD gefördertes Projekt „Transnational Networks of Artistic and Political Solidarity between Latin American and East German Mail Artists and Visual Poets during the Cold War era (1960-1989)“ hat der 40-jährige Chilene in den vergangenen Monaten als Gastwissenschaftler der Institute für Romanistik an den Universitäten Potsdam und Halle-Wittenberg geforscht. Um den postalischen Wegen und Irrwegen der Postkünstler von einst nachzuspüren, recherchierte Leo Bazzurro in Archiven in Halle, Dresden, Berlin, Bremen oder Leipzig. Parallel traf er deutsche Mail Artists zum Interview, denn nicht wenige Künstler*innen von damals sind noch am Leben und können aus erster Hand vom Entstehen und Wirken ihrer inoffiziellen Netzwerke berichten.

Ein analoges Social Network für politischen Aktivismus

Lange vor dem Internetzeitalter haben sie mit Methoden experimentiert, über räumliche und politische Grenzen hinweg aus dem Zusammenwirken von Grafiker*innen, Typograph*innen und Visual Poets eine facettenreiche Kunst entstehen zu lassen, die voller historischer und kultureller Bezüge steckt. „Es war ein soziales Netzwerk, das sich aus dem Geist politischer Solidarität entwickelt hat, mit einer kritischen Haltung zu gesellschaftlichen und politischen Themen als gemeinsamer Basis“, sagt Bazzurro. „Dabei zirkulierten nicht nur Bestandteile von Kunstwerken, sondern auch Informationen darüber, was in den jeweiligen Ländern vor sich ging.“

Kraft ihres Portos, ihrer Stempel und ihrer Postkarten haben vor allem ostdeutsche Künstler*innen wie Karla Sachse, Ruth Wolf-Rehfeldt oder Joseph Huber ihre Beiträge zu der kollaborativen Kunst buchstäblich durch den Eisernen Vorhang hindurch „gebriefmarkt“. Zusammen mit lateinamerikanischen Künstler*innen und politischen Aktivist*innen wie Graciela Marx, Edgardo Vigo oder Guillermo Deisler entstanden so einzigartige Collagen, kreativ kuratierte Magazine, satirische Plakate und interaktive Bücher. Den Anstoß lieferten zumeist Künstler*innen, die eine bestimmte Idee im Kopf hatten, sagt Leo Bazzurro. „Etwa ein Magazin, ein Heft über ein bestimmtes Thema, zum Beispiel Umweltverschmutzung oder Weltfrieden. Per Brief wurde dann eine Reihe von Künstlern eingeladen, sich zu beteiligen.“

Aus dem eingesandten Material von bspw. 50 Absender*innen bastelten diese Kurator*innen dann Stück für Stück neue Magazine. So entstanden 50 Exemplare, von denen jedes ein Original darstellte. „Verwendet wurden alle möglichen Materialien, die sich verschicken ließen“, sagt Leo Bazzurro, der die noch erhaltenen Werke seiner Interviewpartner*innen fotografiert und sammelt. „Egal ob Zugtickets, Ausschnitte aus Modezeitschriften, Reisepässe, Stempel oder behördliche Dokumente. Auch solche, die unter anderen Umständen entsorgt worden wären, etwa kommunistische Pamphlete oder Stasi-Akten nach dem Fall der Mauer.“

Eine Kunst im Visier der Geheimdienste

Eine Gewissheit darüber, ob ihre Einsendungen auf der anderen Seite des Globus den vorgesehenen Empfänger auch erreichten, hatten die Künstler*innen nicht. Sie konnten lediglich hoffen, dass der Inhalt ihrer Briefe dort die intendierte satirische oder politische Botschaft entfaltete. Und dass sie dafür nicht in Teufels Küche kamen, denn in Zeiten des Kalten Kriegs waren die subversiven Mail Artists praktisch jedem Geheimdienst ein Dorn im Auge. Schließlich gingen sie durch ihren nicht-kommerziellen Ansatz und die Distribution per Post auf Distanz zum etablierten Kunstbetrieb und waren als klandestines Phänomen schwer zu kontrollieren.

„Edgardo Antonio Vigo etwa wurde für seine Visuelle Poesie bekannt. Er machte durch Mail Art unter anderem auf die Entführung und Ermordung seines 19 Jahre alten Sohnes durch Handlanger der argentinischen Diktatur aufmerksam“, sagt Leo Bazzurro. Auch die DDR-Staatssicherheit fing zahllose Briefe ab oder schickte sie zurück an den Absender. „Die Mail Artists mussten deshalb auf Tricks zurückgreifen, etwa indem sie Absender und Adressat auf den Briefen vertauschten“, so der Chilene. „Die Stasi hat die Briefe dann nichtsahnend an den eigentlichen Adressaten geschickt.“

Leo Bazzurro fotografiert und sammelt die noch erhaltenen Werke, die sich in Archiven aufspüren lassen. Dabei schlummern nach Einschätzung des Wissenschaftlers noch immer unzählige Korrespondenzkunstwerke im Stasi-Unterlagen-Archiv in Berlin-Lichtenberg. Da die Einsicht in die Unterlagen nur betroffenen Personen gewährt wird und die Geheimdienstler 1990 bekanntlich viele Akten schreddern konnten (15.000 Säcke voll mit Schnipseln!), dürfte sich daran auch so schnell nichts ändern.

Der Kulturwissenschaftler nimmt es sportlich, denn die analoge Mail Art hat nicht nur den Kalten Krieg überlebt, sondern lädt auch im Zeitalter von Social Media zum Mitmachen ein. „Letztlich ist ihre Materialität ein Merkmal, das sich in der virtuellen Welt nicht reproduzieren lässt“, sagt der Postdoktorand, der wissenschaftliche Publikationen zu dem Thema plant. Eine Kunstform also, die wie ein Pilzgeflecht im Untergrund gedeiht und ab und zu Früchte trägt, die zum Nachdenken anregen: „Ein bisschen wie Graffiti auf Papier.“