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„Inbegriff eines Gelehrten und Humanisten“ – Wie Gera Gizaw aus einem Flüchtlingscamp die Welt besser machen will

Gera Gizaw
Prof. Dr. Marcia Schenck (r.) während ihres Global-History-Lab-Kurses im Flüchtlingscamp Kakuma
Photo : Jairo Antonio Melo Florez
Gera Gizaw
Photo : Marcia Schenck
Prof. Dr. Marcia Schenck (r.) während ihres Global-History-Lab-Kurses im Flüchtlingscamp Kakuma

Gera Gizaw ist auf der Flucht. In Äthiopien verfolgt, rettete er sich nach Kenia, wo er seit über zehn Jahren lebt. Gizaw ist aber auch Lehrer, Historiker und seit Januar 2024 Träger des Voltaire-Preises für Toleranz, Völkerverständigung und Respekt vor Differenz der Universität Potsdam. Ein Bericht, wie es dazu kam: in drei Teilen.

I Globalgeschichte wird gemacht …

Marcia Schenck ist Historikerin und seit 2020 Professorin für Globalgeschichte an der Universität Potsdam. Die Expertin für das große Ganze, deren Seminare auch schon mal 750 Jahre abdecken, hat ein Projekt auf den Weg gebracht, bei dem scheinbar das genaue Gegenteil im Mittelpunkt steht: Im Global History Dialogues Project (GHDP) schreiben Studierende – nach einem „Ritt“ durch die Weltgeschichte und einer Einführung in die Methoden der Oral History – eigene Mikrogeschichten. Für Marcia Schenck kein Widerspruch, sondern ein Beitrag zur Weiterentwicklung der Geschichtswissenschaft.

Das GHDP ist ein hybrides Lehrformat, das man durchaus als revolutionär bezeichnen kann. Es verbindet Global- mit Lokalgeschichte, vernetzt Studierende aus aller Welt und bringt sie zugleich in kleinen Arbeitsgruppen an verschiedenen Orten an einen Tisch. Es arbeitet digital und mit Methoden der Oral History, enthält Vorlesungen, Seminare, Diskussionen, Feldarbeit und eine wissenschaftliche Konferenz. Das GHDP ist also thematisch ebenso global wie in seinen Beteiligten: Zuletzt waren Studierende von bzw. auf drei Kontinenten dabei – von Madrid bis Athen, Bishkek bis Ho Chi Ninh Stadt von Ibadan bis Nairobi und natürlich Potsdam.

„Im GHDP entsteht Globalgeschichte im Kleinen“, so die Historikerin. „Mit enorm wichtiger Expertise. Denn die Studierenden schreiben über Räume, Zusammenhänge und Zeiten, für die sie ein einzigartiges Expertenwissen haben.“ Wie Gera Gizaw. Er lebt in Kakuma, einem Flüchtlingslager im Nordwesten Kenias und hat im GHDP zum Camp geforscht und geschrieben. „Hier gibt es viele Communities und viele Geschichten zu erzählen.“ In seinem Projekt ging er der Frage nach, was für ein Leben Menschen in einem Flüchtlingslager führen, das nie als dauerhafte Siedlung gedacht war und trotzdem schon seit 30 Jahren besteht. „Es geht um die einzigartige Lebensweise zwischen Dauerhaftigkeit und Vergänglichkeit, die hier entsteht – und auch, was mit den Menschen passiert, wenn sie permanent impermanent werden“, erklärt er.

Auf den Weg gebracht hat Marcia Schenck das GHDP während ihrer Zeit an der Princeton University. Der damals dort lehrende Historiker Prof. Jeremy Adelman hatte aus einem „Massive Open Online Course“ (MOOC) das „Global History Lab“ (GHL) entwickelt, in dem Lernende aus aller Welt gemeinsam Weltgeschichte studieren können. Als Teaching Assistant bei Prof. Adelman führte Schenck selbst 2016 einen Kurs im Flüchtlingscamp Kakuma durch, an dem auch Gera Gizaw teilnahm. „Dort habe ich die ersten Unterhaltungen geführt, in denen Geflüchtete klar zum Ausdruck brachten, dass sie sich nicht nur als passive Konsumenten von globalgeschichtlichen Narrativen sehen, sondern gerne zu Produzenten eigener Narrative avancieren würden“, erklärt die Forscherin. „Aus diesen Unterhaltungen entwickelte ich 2019 das Pilotprojekt des GHDPs, das Lernende mit Fluchthintergrund und Studierende gleichermaßen ermächtigt, ein eigenes historisches Narrativ zu präsentieren.“

II Neue Stimmen aus dem globalen Süden

Den Perspektiven, Projekten und Texten, die im GHDP entstehen, bescheinigt Marica Schenck ein besonderes Potenzial: „Die Arbeiten rücken Dinge in den Fokus, die meist keine oder nur wenig Aufmerksamkeit bekommen. Und sie erlauben neue Fragestellungen“, so die Historikerin. Wie das Projekt von Gera Gizaw zum Flüchtlingscamp Kakuma. „Er hat das Camp als transitorischen Ort betrachtet, der nicht für die Ewigkeit gedacht ist, aber gleichzeitig schon seit 30 Jahren existiert. Die Menschen dort bauen Gemeinschaftsorte, Kirchen und natürlich auch Grabstätten. Sie leben ihr Leben dort, als wäre es eben doch für die Ewigkeit.“ Gizaw hat sein Projekt nach dessen Abschluss auf Konferenzen vorgestellt und inzwischen eine Projektförderung eingeworben, um ein eigenes Archiv und ein Museum in Kakuma zu gründen. Mit beiden will er dieses spannungsreiche Nebeneinander von Vergänglichkeit und permanenter gelebter Realität weiter erforschen und dokumentieren.

Marcia Schenck wiederum hat sich zum Ziel gesetzt, den Stimmen des GHDP auch dort Gehör zu verschaffen, wo bislang nur etablierte Forschende Zugang haben: im Zirkel der Autoren wissenschaftlicher Publikationen, die in Bibliotheken und auf Publikationsservern vorgehalten werden. Gemeinsam mit Kate Reed hat sie deshalb 2023 das Buch „The Right to Research“ herausgegeben, das neun Beiträge versammelt, die während des Projekts entstanden sind. „Wir melden uns damit in einer größeren Debatte zu Wort, in der Geschichte und Geschichtswissenschaft kritisch befragt werden“, erklärt sie. „Denn Globalgeschichte wird bislang vor allem im globalen Norden geschrieben und ist in diesem Sinne keine globale Geschichte. Das hat letztlich auch mit Ressourcen zu tun: Wer kann es sich leisten, Globalgeschichte zu erforschen und zu schreiben? Wir wollten mit dem Band Stimmen aus dem globalen Süden und nichtakademischen Kontexten nicht nur einen Raum bieten, sondern den Diskurs an sich verändern. Wir zeigen den Wert der verschiedensten Perspektiven für die Globalgeschichte insgesamt auf und öffnen damit neue Dialogräume.“ Wie Gera Gizaw, der für seinen Beitrag „die Entwicklung von Bildungsangeboten für Flüchtlinge seit den 1940er Jahren untersucht“ und mit den unterdurchschnittlichen Bildungsangeboten im Kakuma-Lager“ verglichen hat. „Als Pädagoge, der ehrenamtlich mit Flüchtlingen gearbeitet hat, wollte ich zeigen, wie die Bildung von Flüchtlingen, die ‚ihr Selbstwertgefühl in einer Gesellschaft stärken soll, die sie systematisch ausgrenzt und unterbewertet‘, weiterhin zu einer anderen Form der Ausgrenzung beigetragen hat.“

III Endlich zuhören

Inzwischen zeigt sich, Gera Gizaw wird gehört: Im Januar 2024 wurde ihm der Voltaire-Preis für Toleranz, Völkerverständigung und Respekt vor Differenz der Universität Potsdam verliehen. Da er kein Visum für eine Reise nach Deutschland erhielt, wurde er zur Preisverleihung zugeschaltet und sprach per Videobotschaft – aufgenommen im Kakuma Refugee Camp, wo er derzeit für Jesuit Worldwide Learning und die Xavier University als Academic Adviser und Learning Facilitator arbeitet. Die Laudatio hielt Marcia Schenck. „In Gerawork Gizaw sehen wir den Inbegriff eines Gelehrten und Humanisten. Sein unerschütterlicher Einsatz für die Wissenschaft als Instrument des Dialogs, des Verständnisses und der Veränderung ist inspirierend. Seine Arbeit, die er in einem schwierigen Umfeld geleistet hat, zeugt von seiner Entschlossenheit, zu einer verständnisvolleren, toleranteren und gerechteren Welt beizutragen“, sagt die Laudatorin. Gizaws Vorträge, die oft virtuell stattfinden müssen, vermitteln tiefe Einblicke in Vertreibungs- und Postkonfliktszenarien und bringen Forschende und Praktiker zu einem sinnvollen Diskurs zusammen. Als Pädagoge und Mentor verfolge Gizaw einen Ansatz, der weit über das konventionelle Klassenzimmer hinausgehe. Seine Beteiligung an einem semesterlangen E-Mail-Dialog mit Potsdamer Studierenden, die sich mit der Geschichte von Geflüchteten befassen, sei ein Beispiel für sein Engagement zur Förderung des globalen Dialogs.

Und Gizaw selbst? Gibt sich nicht zufrieden, will weiterhin „dem freien und kritischen Nachdenken den Vorrang“ geben, wie er in seiner Dankesrede sagte. Vor allem aber möchte er den Wert der Bildung, den er selbst erfahren hat, anderen vermitteln: „In meiner Forschung mit Kollegen habe ich gezeigt, wie gemeinschaftsbasierte Forschung die Partizipation von Gemeinschaftsmitgliedern fördert und wie noch so kleine Erfolge nach unten durchsickern und weiter anwachsen.“

 

Mehr zum Voltaire-Preis: https://www.uni-potsdam.de/de/medieninformationen/detail/2024-01-17-voltaire-preis-2024-geht-an-gerawork-teferra-gizaw-aus-aethiopien-und-olga-shparaga-aus-belarus
Einen Einblick in die Arbeit GHDP gibt es hier: https://www.uni-potsdam.de/de/nachrichten/detail/2021-04-20-weltgeschichte-als-dialog-der-geschichten-prof-marcia-schenck-bringt-im-history-dialogu
Ein Interview zum Buch „Right to Research“: https://www.uni-potsdam.de/de/nachrichten/detail/2023-10-13-wir-wollen-weg-von-der-idee-dass-geschichte-nur-an-unis-verfasst-werden-kann

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2024 „Welt retten“ (PDF).