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Mit Reitergeist und Diversität durch die Epochen – Major Dr. Friederike Hartung modernisiert die Militärgeschichte

Major Dr. Friederike Hartung
„Die Bundeswehr ist ein Spiegel unserer diversen Gesellschaft“, sagt die Militärhistorikerin Friederike Hartung.
Photo : Kevin Ryl/Clemens Kulawick
Major Dr. Friederike Hartung modernisiert die Militärgeschichte
Photo : Kevin Ryl/Clemens Kulawick
„Die Bundeswehr ist ein Spiegel unserer diversen Gesellschaft“, sagt die Militärhistorikerin Friederike Hartung.

Als eine von drei uniformierten Militärhistorikerinnen nimmt Major Dr. Friederike Hartung am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) in Potsdam neue Perspektiven ein. Seit 2018 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsinstitut in der Zeppelinstraße. Mit ihrer Studie über die Geschichte der bodengebundenen Luftverteidigung der Luftwaffe legte Friederike Hartung ein Standardwerk im Bereich der Neuesten Militärgeschichte vor. Dafür wurde sie von der Universitätsgesellschaft Potsdam mit dem Preis für die „herausragende Dissertation 2022“ ausgezeichnet.

Dass ihre Arbeit tagespolitisch mal so aktuell werden könnte, hätte sie nicht gedacht. Als Hartung 2017 mit ihrer Dissertation zu den Struktur- und Rüstungsentscheidungen sowie den Einsätzen der deutschen bodengebundenen Luftverteidigung zwischen 1990 bis 2014 begann, waren mögliche Angriffe auf Deutschland aus der Luft kein Thema im öffentlichen Bewusstsein. Dies änderte sich abrupt mit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine Anfang 2022. „Wie schützen wir uns gegen Angriffe durch Flugzeuge, Raketen oder Drohnen?“ Umso heftiger wurde die Möglichkeit nun öffentlich diskutiert. Und sie ging wiederum einher mit der Frage, warum die Bundeswehr heute über lediglich ein Geschwader im Bereich der bodengebundenen Luftverteidigung verfügt – zu wenig, um das deutsche Staatsgebiet zu schützen. „Das war einmal anders“, so Hartung. „Während des Ost-West-Konflikts sicherten rund 18.600 deutsche Soldaten Seite an Seite mit NATO-Partnern die westliche Allianz vor Luftangriffen durch den Warschauer Pakt. Nach der Wiedervereinigung befand sich der Luftverteidigungsgürtel in einer geografisch wirkungslosen Position. Der Feind war weg und Deutschland umgeben von Freunden und Verbündeten. Warum sollte Deutschland also weiter in eine Fähigkeit investieren, die sie für sich selbst nicht brauchte?“

Es folgte ein erheblicher Abbau von Personal und Material der Flugabwehrraketenverbände im Zuge der Abrüstungsvereinbarungen nach Ende des Kalten Krieges – Stichwort „Friedensdividende“. Nach der letzten Strukturreform der Bundeswehr 2012 blieben diesem Bereich der Luftwaffe noch rund 2.300 Dienstposten. Diese Entwicklungen, eingebettet in den internationalen sicherheitspolitischen Kontext, zeichnet Friederike Hartung in ihrer Arbeit nach und liefert dadurch eine wertvolle Grundlage für die aktuelle Debatte um die Verstärkung der NATO-Luftverteidigung und den Wiederaufbau der deutschen Flugabwehrraketenkräfte. Das Thema ist sehr komplex und es gibt nur wenige Expertinnen und Experten in Deutschland. „Ich wurde oft angefragt, nicht nur die Historie zu beleuchten, sondern auch die Gegenwart zu analysieren und abzuleiten, welche Fähigkeiten die Bundeswehr künftig braucht. Doch da begebe ich mich als Historikerin auf sehr dünnes Eis. Mein Job ist die Vergangenheit, nicht die Zukunft.“ Leise, aber bestimmt schließt sie dieses Kapitel jetzt ab und richtet ihren Blick nach vorne.

Die Dissertation abgehakt, befasst sich die Militärhistorikerin in ihrem neuen Projekt mit einem gänzlich anderen Untersuchungsgegenstand: der Kavallerie der Reichswehr. „Diese erscheint bisweilen als historisches Paradoxon“, so Hartung. Einerseits nahmen die berittenen Truppen angesichts der Technisierung des Krieges seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine zunehmend geringe Rolle ein. Andererseits kam der Kavallerie der Reichswehr im Zuge der Neuordnung durch den Versailler Vertrag 1919 aber eine besondere Bedeutung zu. In dem Bestreben der Siegermächte, die Kampfkraft des 100.000-Mann-Heeres zu beschränken, wurde mit drei von zehn Divisionen ein unverhältnismäßig starker Anteil an Kavallerie vorgeschrieben. Mit 16.400 Reitern war sie nun nach der Infanterie die zweitgrößte Truppengattung. „Doch wie sollten Pferde als ‚Waffe‘ im Kontext der zunehmenden Motorisierung und Mechanisierung des Gefechtsfeldes eingesetzt werden? Welchen Stellenwert nahm die Kavallerie im militärischen Denken der Reichswehr ein?“ Diesen zentralen Fragen geht Hartung in ihrer Monografie nach. Wie schon im Studium verbindet die Historikerin ihre Faszination für Pferde und vielschichtige Quellen. Für ihre Masterarbeit hat sie eine 300 Seiten starke Rossarzneihandschrift aus dem 19. Jahrhundert zur Behandlung von Pferden analysiert. „Spannend war, wie in dieser Schrift neueste medizinische Erkenntnisse und auf Aberglauben basierende Rezepte zur Heilung nahezu gleichwertig nebeneinander stehen“, so Hartung. „In diese Welten einzutauchen, macht für mich eine zentrale Motivation für intensives Quellenstudium aus.“

Im aktuellen Projekt untersucht die Forscherin den „Reitergeist“ – ein Begriff, der in Teilen der Bundeswehr bis heute existiert. Mit der Umwandlung von Kavallerie in motorisierte und mechanisierte Verbände ab 1934 forderten die Kavalleristen die Übernahme ihrer „Tugenden“ sowie des „Reitergeistes“. Doch was ist damit genau gemeint? „Beide Begriffe sind wesentlich für das Verständnis der Kavallerie, ihrer Identität und ihres Wirkens im Gefecht. Doch scheinen sie kaum greifbare Konstrukte zu sein, die sich im Laufe der Jahrhunderte gebildet und verändert haben.“ Da keine Abhandlungen über die „Tugenden“ der Kavallerie und den „Reitergeist“ existieren, „wird es eine ganz schöne Friemelarbeit, alles aus den verschiedensten Quellen zusammenzutragen“, befürchtet Hartung und lacht. „Es scheint um Flexibilität und Schnelligkeit im Kampf zu gehen. Auf einem Pferd kann man sich ganz anders bewegen als zu Fuß. Das erhabene Gefühl, im gestreckten Galopp durchs Gelände zu jagen, die Kraft des Pferdes und seine Wendigkeit zu spüren, ist etwas Besonderes“, weiß die ehemalige Reiterin aus eigenem Erleben. Hier sieht die Historikerin Ansätze, die den Kavalleristen vom Soldaten ohne Pferd unterscheiden. „Dieses vermeintliche Überlegenheitsgefühl, das auch dazu verleiten konnte, ins Feuer der Maschinengewehre zu galoppieren – scheinbar losgelöst von jeglicher Rationalität, da extreme Verluste in Kauf genommen wurden“, will Dr. Friederike Hartung analysieren und damit die erste wissenschaftliche Darstellung zum Thema vorlegen.

Koordination und Organisationsgeschick verlangt ihr das zweite große Projekt zum Thema Militär, Krieg und Geschlecht/Diversität ab. „Wir haben am ZMSBw im Bereich der Geschlechtergeschichte durchaus Aufholbedarf, was uns bewusst ist“, gesteht Hartung zu. Auch die Evaluierung des Wissenschaftsrates Ende vergangenen Jahres kam zu dem Ergebnis, dass das Forschungszentrum der Bundeswehr in Potsdam „bei seiner Arbeit die Geschlechter und- Diversitätsperspektive stärker berücksichtigen sollte.“ Es gibt nur wenige Veröffentlichungen. Der Kollege Gerhard Kümmel hat zu Frauen in den Streitkräften gearbeitet. Klaus Storkmann hat den Umgang der Bundeswehr mit Homosexualität untersucht. „Es ist jedoch noch viel zu tun. Sowohl in der Militärgeschichte als auch im Krieg selbst dominieren männliche Kategorien. Lange Zeit haben vorwiegend Männer militärhistorische Quellen ausgewertet, die sich mit männlichen Akteuren befassen, ohne deren Geschlecht zu thematisieren. Das wollen wir mit diesem großen Projekt ändern“, so die Projektleiterin, die „Geschlecht als zentrale Dimension intersektionaler Diversität“ begreift. „Vorstellungen von Geschlecht beeinflussen die Diskurse über das Militär und die Militärkultur. Und umgekehrt haben Militär und Krieg massiven Einfluss auf die jeweiligen Geschlechterbilder und -beziehungen sowie die Geschlechterordnung. Deswegen ist Geschlecht nicht nur ein wichtiger Forschungsgegenstand, sondern auch eine Analysekategorie“, führt die Wissenschaftlerin am Forschungsinstitut der Bundeswehr in Potsdam aus. „Gemeinsam mit den Historikerinnen Prof. Dr. Karen Hagemann von der University of North Carolina und Prof. Dr. Isabelle Deflers von der Universität der Bundeswehr in München möchten wir einen Forschungsverbund zu Militär, Krieg und Geschlecht/Diversität aufbauen, der die Korrelation mit gesellschaftlichen Entwicklungen in den Blick nimmt.“ Das Ziel ist es, sich epochenübergreifend und interdisziplinär mit Forschenden an Universitäten und Forschungseinrichtungen im In- und Ausland auszutauschen und zu vernetzen.

Als Friederike Hartung 2007 zur Bundeswehr kam und sich bei der Luftwaffe zum Offizier ausbilden ließ, war sie eine von vier Frauen in einem Hörsaal mit über 20 Soldaten. „An der Universität der Bundeswehr in Hamburg waren wir im Fach Geschichte von 64 Studierenden ebenfalls nur vier Frauen“, erinnert sie sich. „Ich kenne es nicht anders.“ Hartung hatte in ihrer Laufbahn keine Probleme und doch sieht sie Unterschiede zwischen Frauen und Männern: „Als Frau in einer Männerdomäne hat man schon oft das Gefühl, besonders beobachtet zu werden, mehr leisten zu müssen und sich keine Fehler erlauben zu dürfen, um anerkannt zu werden. Weiblichkeit wird versteckt und männliche Verhaltensweisen adaptiert, um dazu zu gehören. So war es zumindest in meinen ersten Jahren.“ Das soldatische Berufsbild wird in der Regel eng verknüpft mit der Vorstellung des männlichen Kämpfers. „Aber die Streitkräfte bestehen aus so vielen Facetten, die alle sichtbar sein sollten“, sagt sie. „Da kommt es nicht nur auf bestimmte körperliche Fähigkeiten an. Wir brauchen alle. Die Bundeswehr ist ein Spiegel unserer diversen Gesellschaft.“ Ob in der bodengebundenen Luftverteidigung, in der Cyberabwehr, im Sanitätswesen oder der Logistik – die Vielfalt der Aufgaben erfordert diverse Talente. „Insofern ist der Fokus auf den körperlich-kraftvollen Typus, der keine Schwäche zeigt, längst nicht mehr zeitgemäß.“

Bisher gelingt es Friederike Hartung, parallel an verschiedenen Projekten zu arbeiten, Tagungen oder Workshops zu organisieren, eigene Veröffentlichungen und Sammelbände voranzubringen. Ihre ruhige souveräne Ausstrahlung zeigt, dass sie ihr Energie- und Stresslevel den Erfordernissen anpassen kann. „Eine Mischung aus allen Tätigkeiten ist schön und abwechslungsreich – sofern man sie in einer gesunden Balance hält“, sagt sie. Zum Ausgleich trifft sie Freunde, macht Karate und Yoga. Zu Hause hat sie zwei Kater und am Wochenende hilft sie ehrenamtlich im Potsdamer Tierheim aus.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2023 „Mentale Gesundheit“ (PDF).