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Weder Nazi noch Widerständler – der Potsdamer Historiker Thomas Brechenmacher hat das Leben Henri Nannens bis 1945 untersucht

Henri Nannen (links) bei der Verleihung des Gödecke-Parke-Davis-Preises in Freiburg (1987)
Prof. Dr. Thomas Brechenmacher
Photo : Marlis Decker (CC BY 3.0 DE)
Henri Nannen (links) bei der Verleihung des Gödecke-Parke-Davis-Preises in Freiburg (1987)
Photo : Tobias Hopfgarten
Prof. Dr. Thomas Brechenmacher

Henri Nannen zählt zu den prominentesten Journalisten der deutschen Nachkriegsgeschichte. 1948 gründete er den „Stern“ und machte ihn als Chefredakteur, später Herausgeber zum auflagenstärksten Nachrichtenmagazin Europas. Eine der renommiertesten journalistischen Ausbildungsstätten trägt ebenso seinen Namen wie die vielleicht prestigeträchtigste Auszeichnung für publizistische Leistungen in Deutschland. Doch seit im Frühjahr 2022 ein Recherche-Team des NDR antisemitische Flugblätter präsentiert hat, an deren Erstellung Nannen als Teil einer Propagandakompanie beteiligt gewesen sein soll, wird seine Vergangenheit heftig diskutiert. Der Medienkonzern Bertelsmann hat daraufhin das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) damit beauftragt, die Geschichte des „Stern“ auf Verbindungen zur NS-Zeit zu untersuchen. Der Potsdamer Historiker Prof. Dr. Thomas Brechenmacher hingegen hat weiter zurückgeschaut – auf das „erste Leben“ Henri Nannens bis 1945. Und zwar auf Wunsch des Sohnes und der Enkelin, Christian und Stephanie Nannens. Seine Erkenntnis: Der Zeitungsmagnat war weder Nazi noch Widerständler, sein Leben komplex und voller Brüche, zu denen er später überwiegend offenstand. Das Plädoyer des Forschers: Der Blick auf die deutsche Geschichte und ihre Protagonisten verträgt kein Schwarz-Weiß-Denken, braucht differenzierte Urteile.

Als Historiker habe ihn biografische Forschung schon immer fasziniert, sagt Brechenmacher. Deshalb zögerte er auch nicht, als die Nachfahren des „Stern“-Gründers ihn im Spät-Sommer 2022 baten, die Jugend Henri Nannens wissenschaftlich zu untersuchen. An Nannen reizte den Forscher besonders die Ambivalenz: „Ein Leben mit so vielen Unebenheiten ist enorm spannend – genauso die Frage, wie er selbst nach 1945 damit umgegangen ist.“ Schwerpunkt der Nachforschungen war die Zeit von Nannens Jugend in Emden bis 1945. Dafür sammelte Brechenmacher systematisch alles Material zu und vor allem aus dieser Zeit, das sich finden ließ: Biografien und andere Sekundärliteratur, offizielle Dokumente aus Nannens Studien- und Wehrmachtszeit, vor allem aber Selbstzeugnisse aller Art wie frühe Publikationen und Briefwechsel. Der Zugang zu Quellen aus dem Familienbesitz war hierfür besonders wertvoll. „Leider hat sich dabei aber auch gezeigt, dass Nannen kein exzessiver Briefschreiber war und nie Tagebuch schrieb.“ Wichtig ist, das vorliegende Material quellenkritisch zu erschließen“, erklärt der Historiker. Worauf kann sich eine biografische Rekonstruktion stützen? Welche Aussagen sind vertrauenswürdig, lassen sich verifizieren? „Wenn man das systematisch und wissenschaftlich valide macht, hat man schon zu tun.“

Einen arbeitsreichen Herbst später bilanziert Thomas Brechenmacher: „Henri Nannen hat zweifellos Konzessionen gemacht, um sein Leben aufbauen zu können.“ Als junger Mann studierte der spätere Medienmagnat Kunstgeschichte und sammelte erste journalistische Erfahrungen als Rundfunkreporter beim „Reichssender München“. Später schrieb er für Magazine wie „Die Kunst für alle“ und „Die Kunst im Dritten Reich“, wirkte auch in einer sehr kurzen Szene als Sprecher in Leni Riefenstahls Olympiafilm mit. Im Weltkrieg war er Angehöriger verschiedener Propagandaeinheiten der Luftwaffe und wurde als solcher 1944 zur SS-Einheit „Südstern“ abgeordnet, die 1944 in Italien operierte.

Und doch ist sich der Historiker sicher: „Nannen war weder überzeugter Nationalsozialist noch Antisemit. Dafür gibt es in seinem Leben zu viele Brüche.“ Im Elternhaus gab es keine Affinität zum Nationalsozialismus: Der Vater stand eher der Sozialdemokratie nahe und wurde von den Nazis aus dem Polizeidienst gedrängt. Nannen selbst wurde die enge und langanhaltende Beziehung zu seiner Jugendliebe Cilly zum Verhängnis. Den Briefwechsel der beiden konnte Brechenmacher einsehen. Cilly war Jüdin. Weil Nannen zu ihr hielt, kam er in Konflikt mit der NS-Gauleitung und erhielt Redeverbot im Rundfunk. Erst als sein Verleger sich für ihn einsetzte, konnte er, unter Bedingungen, wieder arbeiten. „Die Ereignisse haben ihn nicht in den Widerstand getrieben“, sagt Brechenmacher. „Stattdessen hat er sich arrangiert und zur Mitarbeit bewegen lassen.“ Er habe, um als Journalist arbeiten zu können, in Zeitschriften mit klarer NS-Tendenz publiziert. Noch im selben Jahr wurde Nannen eingezogen, wirkte als Übersetzer, Luftwaffen-Kriegsberichter – und in besagter Propagandaeinheit. Gleichzeitig blieb Nannen auch in dieser Zeit der nach Palästina ausgewanderten Cilly innerlich verbunden, widmete ihr noch im Jahr 1943 ein Buch. All das deckt eine Inkongruenz auf, die Brechenmacher von Beginn an beschäftigt hat: „Diese frühe Zeit stellt die Frage: Wie verhält sich ein junger Mann, dessen Leben noch vor ihm liegt, in dieser Zeit?“

Henri Nannen war diese Ambivalenz im Übrigen selbst sehr wohl bewusst – und er hat sie in einer Nachkriegsgesellschaft, die über viele dunkle Stellen der NS-Geschichte gern und lange geschwiegen hat, relativ deutlich benannt. Wohl wissend, dass seine prominente Position im „Stern“ seiner Stimme ein großes Gewicht verlieh. „Er hat relativ früh offen gesagt: ‚Wir alle sind schuldig geworden, auch ich.‘“, so Brechenmacher. „Und er hat, früher als viele andere, sich um Ehrlichkeit dieser Vergangenheit, auch seiner eigenen gegenüber, bemüht.“

Was die Zeit Nannens im Dienst der NS-Propaganda angeht, bleibt ein blinder Fleck. „Die antisemitischen Flugblätter von 1944 hat er selbst nie thematisiert“, sagt der Historiker. In welcher Weise der Vorzeige-Journalist der Bundesrepublik an den Flugblättern selbst beteiligt war, ist bislang nicht sicher zu sagen. Als Führer eines Luftwaffenpropagandazugs beim „Südstern“ hat er zumindest an ihrer Verbreitung mitgewirkt. Hat er aber auch einzelne Flugblätter selbst entworfen, Texte verfasst? „Gut möglich, dass diese Frage sich nicht mehr abschließend klären lässt.“ Gleichwohl: Der Ruf war beschädigt. In der Folge wurde aus dem Nannen-Preis – zumindest vorläufig – der „Stern“-Preis. Das Forschungsprojekt zum NS-Erbe des Magazins soll Klarheit bringen. Doch das fokussiert auf den „Stern“, setzt erst nach dessen Gründung 1948 ein – und dürfte Jahre dauern.

Thomas Brechenmachers Blick in das Leben Henri Nannens hat ein erstes Etappenziel schon erreicht. Nach nicht einmal einem Jahr konnte er dessen Nachkommen einen Bericht vorlegen. Dieser ist differenziert in den Bewertungen, aber klar im Plädoyer: „Nannen war weder Widerstandskämpfer noch überzeugter Nazi oder Antisemit, sondern – etwas abgegriffen, aber wohl wahr – einer, der sich nolens volens arrangierte. Wie viele junge Menschen in dieser Zeit“, so der Forscher. „Aber sie haben das Recht auf eine ausgewogene, gerechte Beurteilung anstatt eines pauschalen moralischen Verdikts.“ Brechenmacher kann sich durchaus vorstellen, seine Forschung zu Henri Nannen fortzusetzen – und vielleicht sogar zu einer Biografie zusammenzufassen.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2023 „Mentale Gesundheit“ (PDF).