Der Kurs in der Kletterhalle am Campus Golm ist Teil eines wissenschaftlichen Projekts der Universität Potsdam, das die Wirksamkeit der individualisierten Klettertherapie bei Jugendlichen mit einer Wirbelsäulenverkrümmung untersucht. „Es handelt sich um eine Therapieform, die noch nicht anerkannt ist“, sagt Silas Dech. Ein Fernziel des Projekts ist es daher, eine Argumentationsgrundlage zu schaffen, um sie über die Krankenkassen abrechnen lassen zu können. Die Chancen dafür stehen gut, denn erste Ergebnisse der Studie sind vielversprechend.
Skoliose ist eine orthopädische Erkrankung, bei der die Wirbelsäule dreidimensional verkrümmt und verdreht ist. „Das Krankheitsbild ist sehr komplex und die Ursachen sind meist nicht bekannt“, erklärt Dech. Oft bemerken die Betroffenen nichts von der Erkrankung, die nicht zwingend Beschwerden verursacht. Bleibt eine Skoliose jedoch unbehandelt, kann sie schlimmstenfalls zur Einengung innerer Organe wie Herz oder Lunge führen. Die Krankheit so früh wie möglich zu behandeln, ist auch deswegen wichtig, weil es im Wachstum häufig zu einer Verschlimmerung kommt. Dafür muss sie jedoch erst einmal erkannt werden: „Eltern sollten darauf achten, ob die Taille ihres Kindes auf der einen Seite schmaler ist als auf der anderen“, so der Wissenschaftler. Auch der sogenannte Vorbeugetest nach Adam bietet einen Hinweis darauf, ob eine Skoliose vorliegt. Feststellen lässt sich die Erkrankung nur mittels Röntgenbild.
2020 startete die ungewöhnliche Behandlung. Die Jugendlichen waren über das medizinische Versorgungszentrum des Potsdamer Oberlinhauses vermittelt worden. Eine Kontrollgruppe durchlief eine klassische Physio-, die Versuchsgruppe die Klettertherapie. Vor und nach der Studie wurde ein spezielles Röntgenbild – mit verringerter Strahlenbelastung – gemacht. Die Teilnehmenden der Versuchsgruppe kamen ein Jahr lang wöchentlich in die Halle nach Golm und lernten die Therapiekletterwände zu erklimmen, die teilweise eigens vom Forschungsteam konzipiert und vom TÜV geprüft wurden. Der Ablauf folgte dem „Potsdamer Modell“, das an der Uni entwickelt wurde. In einem spezifischen Wechsel aus Belastung und Entspannung geht es darum, bestimmte Muskeln zu kräftigen und die Haltung zu verändern. Doch auch wenn die Gesundheit im Mittelpunkt steht, darf Spaß nicht zu kurz kommen. „Wenn die Jugendlichen therapiemüde werden, mache ich ein Spiel daraus“, sagt Silas Dech. Dann tollen sie nicht mehr durch eine Sporthalle, sondern durch einen Dschungel. Und am Ende der Stunde dürfen sie auch an die großen Kletterwände – für die Jugendlichen ein Highlight.
Zwar steht die finale Auswertung noch aus, doch erste Ergebnisse weisen darauf hin, dass das Modell erfolgreich ist. „Unser primäres Ziel ist es, dass sich die Skoliose nicht verschlechtert, dass also das Fortschreiten der Krankheit verhindert wird“, sagt der Wissenschaftler. „Doch der Zustand der meisten Jugendlichen hat sich während der Klettertherapie sogar verbessert.“ Auch sie selbst geben positives Feedback. Eine Schülerin berichtete, dass ihre Rückenschmerzen verschwanden, ein Schüler, dass sich seine Haltung verbessert habe. Eine Patientin war vom Thema so angetan, dass sie sogar ihre Facharbeit am Gymnasium darüber schrieb. Silas Dech sieht als weiteren Vorteil des Kletterns gegenüber der klassischen Physiotherapie, dass es zum langfristigen Hobby werden könnte – schließlich fördert es den Gemeinschaftssinn und macht einfach Spaß. Damit nach Studienende keine Pause eintritt, bietet Silas Dech derzeit schon die nächsten Kurse an. Eine weitere Zusammenarbeit mit den Jugendlichen ermöglicht es dem Forschungsteam, zusätzlich wertvolle Langzeitdaten zu erheben.
Seit 2022 erhält das Projekt eine finanzielle Unterstützung zur Förderung des Wissens- & Technologietransfers (FöWiTec) von Potsdam Transfer. Mit deren Hilfe bringt das Team das Behandlungskonzept in die Praxis und steht dafür im engen Austausch mit Vereinen des Gesundheitssports und Physiotherapiepraxen. Mit Erfolg: In der jüngst eröffneten Boulder- Werft in Werder wurde ein Klettertherapiebereich eingerichtet. Und Dech will noch weitergehen. „Personal zu finden, ist der nächste große Schritt und der Auftrag, den wir uns gegeben haben.“ Der Brandenburgische Verein für Gesundheitsförderung, ein eingetragener Verein der Uni Potsdam, bietet ab 2023 eine Fortbildung zur auf Skoliose spezialisierten Klettertherapie an. Die Vision des Wissenschaftlers ist es, dass möglichst viele Menschen Zugang zu der einzigartigen Therapieform bekommen und auch das präventive Klettern für eine größere Zielgruppe attraktiv wird. Und dazu gehören auch Seniorinnen und Senioren.
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Transfer - 2022/2023 (PDF).