Forschungsfokus Islamismus
Nach Deutschland kam Uri Rosenberg also wegen seines Forschungsthemas: Die islamistische Bewegung Millî Görüs (dt. „Nationale Sicht“), die hierzulande auch als die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) bekannt ist. Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten besonders durch Zuwanderer aus muslimisch geprägten Herkunftsstaaten religiös und kulturell diverser geworden. Inzwischen leben hierzulande zwischen 4,4 und 4,7 Millionen Muslime, wobei die Türkei immer noch das wichtigste Herkunftsland ist. Gerade in der größten deutschen Metropole und Hauptstadt lassen sich moderne Phänomene der Religion und der politische Islam deshalb sehr gut erforschen.
In Deutschland gehört die IGMG zu den größten islamischen Verbänden. Die Organisation entstand als Ableger der Millî Görüs-Bewegung um Necmettin Erbakan in der Türkei, die über den institutionellen Weg der Parteipolitik eine Islamisierung des Staates anstrebte. Auch in Deutschland propagierte die Bewegung einschlägige Auffassungen und anti-westliche Bilder. Daher wird die IGMG regelmäßig in Verfassungsschutzberichten genannt, wo sie zwar als nicht gewaltorientiert und legalistisch, aber durchaus als islamistisch ausgerichtet beurteilt wird. Diese Auffassung fordern Uri Rosenbergs Forschungsergebnisse zum Teil heraus: Er identifiziert sie zwar als durch und durch konservative Bewegung, die sich aber von offizieller Seite moderat gebe und handle: „Im ‚Westen‘ zu leben, bedeutet, dass man sich an bestimmte Standards halten muss. Man kann nicht weiter die Demokratie und liberale Werte oder LGBTQIs* angreifen. Wenn man Einfluss haben will, muss man die Sprache ‚des Westens‘ sprechen“, so Rosenberg. Zum Vorwurf, die IGMG verbreite antisemitische und LGBTQI*-feindliche Inhalte, sagt Rosenberg, der selbst Israeli und Jude ist: „Sie wissen, dass dies in Deutschland ein sensibles Thema ist. Deshalb vermeiden sie das Thema Juden entweder ganz oder achten darauf, nichts zu sagen oder zu schreiben, was auch nur im Entferntesten antisemitisch klingt, wenn sie über jüdische Themen sprechen. Ähnliches gilt für LGBTQI*-Themen.“
In den Berliner Stadtteilen Kreuzberg, Neukölln, Wedding und Schöneberg ist die IGMG ebenfalls präsent. Dort führt Uri Rosenberg seine Feldforschung durch, für die er nach Deutschland gekommen ist: Er ist in Moscheen und Teehäusern unterwegs, um mit Mitgliedern ins Gespräch zu kommen – am besten auf Türkisch, das er fließend spricht. Seine Diskursanalyse setzt darüber hinaus auf Textkorpora, wie veröffentlichte Texte der IGMG. Dabei legt er den Fokus auf „durchschnittliche“ Mitglieder der Bewegung und nicht deren Führungspersonen. Genauer interessiert sich Rosenberg für die Rhetorik und Ideologie der islamistischen Bewegung. Außerdem geht es ihm um einen vergleichenden Blick darauf, wie die Bewegung in der Türkei und in Deutschland bzw. „dem Westen“ agiert.
Forschung hilft bei Friedensarbeit
Weil er Konflikte nicht nur beobachten und erforschen, sondern auch lösen wollte, gründete Uri Rosenberg gemeinsam mit dem Palästinenser Abeer Bandak und dem Israeli Tomer Cohen in Israel eine NGO, die zum Dialog zwischen Palästinensern und Israelis beitragen möchte. „Tech2Peace“ heißt die Vereinigung, die sich auch für Friedensbemühungen zwischen Israel und Palästina einsetzt. Wenn er darüber spricht, leuchten seine Augen. Man merkt, dass er Friedensaktivist und Forschender gleichermaßen ist. „Die israelische Rechte ist auch sehr interessant, deshalb habe ich vor meiner Promotion darüber geforscht, ebenso wie über die islamistische Rechte und die palästinensische Rechte. Das sind Stimmen, die man kennenlernen muss, wenn man den Konflikt verstehen will. [...] Ich glaube, das hilft mir wirklich bei der Friedensarbeit: Dass ich die Gegner verstehe. Bewegungen wie die Millî Görüs zu verstehen, ist wichtig, weil man dann sieht, was die Herausforderungen sind.“ Er ergänzt: „Ich denke, wenn man den Konflikt heilen will, muss man wissen, was die Probleme sind. Und die Probleme sind nicht immer nur intern, sie kommen manchmal auch von außen.“
Den Nahen Osten könne man nicht verstehen, ohne sich die Türkei anzusehen, ist sich der Forscher sicher. Uri Rosenberg jedenfalls tut das sehr genau. Den Aufenthalt an der Universität Potsdam sieht Rosenberg als eine große Chance seiner wissenschaftlichen Karriere. Er hofft, in Zukunft selbst Studierende und Forschende zu inspirieren und ihnen mit (intellektueller) Offenheit zu begegnen, wie es sein Potsdamer Betreuer Johann Hafner tue.