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Nicht ohne die Vergangenheit – Fabian Lampart und Natalie Moser erforschen Zukunftsreflexionen in der Literatur

 

Prof. Dr. Fabian Lampart
Natalie Moser
Verfallenes Gebäude mit Grün bewachsen.
Photo : Thomas Roese
Prof. Dr. Fabian Lampart ...
Photo : Thomas Roese
... und Natalie Moser im Interview.
Photo : AdobeStock/La-Cassette-Bleue
Nicht ohne die Vergangenheit – Fabian Lampart und Natalie Moser erforschen Zukunftsreflexionen in der Literatur

Die Zukunft treibt derzeit alle um“, sagt Prof. Dr. Fabian Lampart. „Denn sie erscheint uns im Moment eher bedrohlich.“ Der Professor für Neuere deutsche Literatur/19.–21. Jahrhundert untersucht zusammen mit seiner Mitarbeiterin Dr. Natalie Moser, welchen Niederschlag die Zukunft in literarischen Texten findet. Nach mehreren Workshops und Publikationen werden die beiden Germanist*innen im Sommersemester auch Seminare zur „Zukunft gestern und heute“ anbieten, ein Forschungsprojekt ist ebenfalls geplant. Es mag zunächst erstaunen, doch Reflexionen des Kommenden sind oftmals in die Auseinandersetzung mit dem Historischen eingebettet, erklären die Forschenden. „Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen Geschichte und Literatur“, sagt Lampart. „Literatur kann die Vergangenheit anschaulicher machen und damit Reflexionen anregen.“ Das gilt in besonderer Weise für die Epoche des Realismus im 19. Jahrhundert, als historische Romane beliebt waren. „Es ist zwar kontraintuitiv, aber das Erzählen von Geschichte bedeutete damals oft, über künftige Entwicklungen nachzudenken“, erläutert Moser. Die in dieser Zeit geprägte Geschichtsphilosophie legte nahe, dass sich durch die Betrachtung des Vergangenen Regeln für das Kommende ableiten lassen.

So mehrten sich nach der Französischen Revolution historische Erzählungen. „Die Brautleute“ von Alessandro Manzoni aus dem Jahr 1830 erzählt von einem Paar in der Lombardei, das während des Dreißigjährigen Krieges getrennt wird. Das Land wird von den Spaniern besetzt. „Der Roman macht Parallelen zum Italien Mitte des 19. Jahrhunderts auf und thematisiert das Entstehen nationaler Identität“, erklärt Lampart. Die Erfahrungen der napoleonischen und österreichischen Fremdherrschaft ließen den Wunsch nach nationaler Einigung immer größer werden. Die Texte des Autors Gottfried Keller zeigten hingegen ein „intensives Nachdenken über ökonomische Veränderungen“. „Keller kennt die wirtschaftlichen Diskussionen seiner Zeit und schließt an sie an“, sagt der Germanist. So geht es im Novellenzyklus „Die Leute von Seldwyla“ um Taugenichtse, die ständig Schulden machen. Keller schrieb diese Erzählung 20 Jahre nach ihrer Entstehung weiter (Fortsetzung folgt!): Aus der armen Kleinstadt ist eine reiche geworden, denn das Börsenwesen hat sich verbreitet und die Seldwylaner verstehen sich aufs Spekulieren.

„Im Realismus spielen immer wieder Lebensbereiche eine Rolle, die künftige Entwicklungen betreffen“, erläutert Lampart. Neben der Wirtschaft seien Naturphänomene Gegenstand solcher Reflexionen. So geht es beim Autor Adalbert Stifter etwa darum, das Wetter oder auch den Verlauf von Gebirgsbächen vorherzusagen. Und auch die Erziehung spielt im 19. Jahrhundert beim Nachdenken über das Künftige eine Rolle. Bildungsgeschichten wurden populär, das Heranwachsen von Menschen mit dem Impetus verknüpft, die Welt zu verbessern. Wie in Goethes Klassiker „Wilhelm Meister“, in dem ein utopisches Denken „eingekapselt“ sei. Die Aufmerksamkeit für den Wert von Erziehung entstand im Umfeld der Französischen Revolution – als eine „von unten“ herbeigeführte Zäsur. „Zukunft wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts von etwas Offenem zu etwas Gestaltbarem“, sagt Lampart. Er spricht von der „Domestizierung der Zukunft“. Während vorher, gerade im Mittelalter, die Zeiterfahrung eher zyklisch war, wie die Jahreszeiten oder das Kommen und Gehen der Herrschenden, wurde sie in der sogenannten Sattelzeit mit der Erfahrung der Französischen Revolution formbar.

In der Science-Fiction-Literatur des 20. Jahrhunderts machte sich dann ein Grundoptimismus breit: Nun schien die Technik Zukunft formbar zu machen, erstmals erkundeten Menschen den Weltraum. Isaac Asimov beschwor in seinem „Foundation-Zyklus“ eine ferne Zukunft mit einem galaktischen Imperium herauf, das dem Untergang geweiht ist. Dabei orientierte er sich übrigens an Edward Gibbons „Verfall und Untergang des Römischen Imperiums“ aus dem 18. Jahrhundert. Abermals ein Beispiel dafür, wie die Vergangenheit für Zukunftsvisionen dient.

Natalie Moser hat auch die Gegenwartsliteratur im Blick. In Theresia Enzensbergers dystopischem Roman „Auf See“ von 2022 leben Menschen in der näheren Zukunft nach dem Zusammenbruch der Ordnung auf einer künstlichen Insel in der Ostsee in einer Art Selbstversorgerwirtschaft zusammen. Unterbrochen wird die Handlung durch historische Kurzerzählungen, die betreffenden Kapitel sind mit „Archiv“ überschrieben – ein Hinweis darauf, dass die Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft sich auch in Texten der Gegenwart findet. Roman Ehrlichs „Malé“ von 2020 spielt in der Mitte unseres Jahrhunderts: Die dem Untergang geweihten Malediven sind verlassen worden, doch Aussteigerinnen und Abenteurer besiedeln die Inseln neu und entwerfen quasi eine Parallelwelt. „Der Roman ist extrem irritierend, weil die geschilderte Welt nur einen Tick anders ist als unsere Gegenwart“, sagt Moser.

Literatur ist wohl keine Glaskugel, die uns die Zukunft wie das Wetter vorhersagt. Doch literarische Texte können dazu beitragen, die derzeit oft bedrohlich erscheinende Zukunft greifbarer zu machen. Und für Natalie Moser gibt es auch mindestens einen Grund, sich auf das Kommende zu freuen: „Was Literatur betrifft, schaue ich positiv in die Zukunft. Für Kunst und Kultur sind Krisenzeiten sehr anregend.“

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2023 „Zukunft“ (PDF).

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Online editorial

Sabine Schwarz