Frau Linstädter, warum ist die Fördermaßnahme „BioTip“ zu Kipppunkten, Dynamik und Wechselwirkungen von sozialen und ökologischen Systemen so wichtig?
Die „BioTip“-Projekte sind international beispielgebend zur Frage, welche Rolle ökologische Kipppunkte für den Verlust der Artenvielfalt, aber auch für den Verlust essenzieller Ökosystemleistungen spielen. Das Überschreiten ökologischer Kipppunkte bedroht massiv unsere Lebensgrundlage, besonders in den Bereichen Ernährungssicherheit und Kohlenstoffspeicherung. Wir müssen diese Kipppunkte unbedingt besser verstehen, um geeignete Maßnahmen zu ihrer Vermeidung oder Umkehr ergreifen zu können.
Worum geht es in Ihrem eigenen „BioTip“-Projekt?
Weite Teile Afrikas liegen in Trockengebieten. Dort leben viele Menschen, die als Viehzüchter ganz besonders vom Klimawandel und den Folgen einer Wüstenbildung betroffen sind. Wenn Weideflächen stark übernutzt werden, können sie – zum Beispiel infolge einer Dürre – plötzlich kollabieren oder „umkippen“. Aufgrund der komplexen Wechselwirkungen von Natur und Gesellschaft sind diese Kipppunkte noch nicht gut verstanden – häufig kommen sie als unangenehme Überraschung. Hier setzt unser Verbundprojekt „NamTip“ an, das ökologische Kipppunkte der Wüstenbildung untersucht.
Warum soll das Programm eingestellt werden?
Begründet wurde dies mit aktuell geringer zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln und neuen Schwerpunktsetzungen „hin zu Forschungsaktivitäten, die einen schnellen Impact erzeugen“. Es gibt Hinweise darauf, dass das abgezogene Geld verwendet werden soll, um im BMBF nach der Bundestagswahl neu aufgelegte Projekte zu finanzieren, so wie die im April 2022 ins Leben gerufene Deutsche Agentur für Transfer und Innovation (DATI). Diese Agentur hat einen Schwerpunkt auf der rein anwendungsorientierten Forschung in Deutschland.
Welche Folgen hat die Einstellung der Fördermaßnahme „BioTip“ ganz konkret?
Das Beenden der Fördermaßnahme führt zu einer nachhaltigen Beschädigung der Reputation der aktuell laufenden Vorhaben bei den vielen Forschungs- und Praxispartnern in aller Welt. Die Bundesregierung verzichtet damit auch auf die Forschungsphase mit dem höchsten zu erwartenden wissenschaftlichen Ertrag. Außerdem werden zahlreiche Qualifizierungsphasen junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, besonders in den Partnerländern, perspektivlos abgebrochen. Insgesamt werden aus unserer Sicht ca. 25 Millionen Euro Steuergelder verschwendet, da die Ertragsphase des Programms komplett entfällt.
Gemeinsam mit den rund 130 beteiligten Forschenden haben Sie einen Offenen Brief an die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger, verfasst. Was steht drin – und was ist das Ziel des Briefes?
Wir wollen unser Unverständnis darüber artikulieren, dass im BMBF offenbar seit der Bundestagswahl ein interner Paradigmenwechsel erfolgt ist. In den vergangenen Jahren hat das BMBF die Vorreiterrolle der Bundesregierung in den nationalen und internationalen Bemühungen zum Schutz der biologischen Vielfalt stets mitgetragen. Diese Zielsetzung scheint jetzt plötzlich nicht mehr so wichtig zu sein. Dies ist umso verwunderlicher, als dass sie im Koalitionsvertrag explizit festgehalten ist: „Der Erhalt der Artenvielfalt ist eine Menschheitsaufgabe und eine ethische Verpflichtung. Wir wollen die Biologische Vielfalt schützen und verbessern, ihre nachhaltige Nutzung sichern und die Potenziale des natürlichen Klimaschutzes nutzen.“ Mit den „BioTip“-Projekten haben wir in den vergangenen Jahren wissenschaftliche Grundlagen für die Umsetzung genau dieser Ziele erarbeitet und nach vier Jahren realistische Ansatzpunkte für lokale Kooperationen identifiziert. Wir hoffen auf ein Überdenken der Entscheidung des Ministeriums und formulieren dies auch in unserem Offenen Brief.
Link zum offenen Brief an die Bundesministerin: https://prodigy-biotip.org/wp-content/uploads/2022/06/Ministerinnenbrief_20.06.22_16h.pdf
Link zur Fördermaßnahme BioTip: https://biotip.org/
Kontakt: Prof. Dr. Anja Linstädter, Institut für Biochemie und Biologie, Lehrstuhl für Biodiversitätsforschung/ Spezielle Botanik, Direktorin des Botanischen Gartens der Universität Potsdam
Telefon: 0331 977-1920
E-Mail: anja.linstaedteruuni-potsdampde