Von der Quelle bis zur Senke. Obwohl einige regionale Studien zwischen den Anden und dem Atlantik durchgeführt wurden, gibt es nur wenige spezifische Aussagen über Verteilung und zeitliche Entwicklung des Sedimenttransports und es fehlen alters- und ortsabhängige Angaben zum Materialtransport sowie zur Verbindung der Sedimentquellen (Gebirge) mit den Senken (Ozeanbecken). Diese Informationen sind wichtig für das Verständnis der Einflüsse des Klimawandels auf die Erdoberflächenprozesse und die Beziehungen zum Kohlenstoffkreislauf. Aktuelle Fragen, die die Wissenschaft zu beantworten versucht, sind: Wie schnell gelangt Sediment aus dem Gebirge in das Vorland und weiter in die Meeresbecken? Welche Barrieren muss der Sedimenttransport überwinden und wie schnell werden Gesteine erodiert und transportiert? Diese Probleme diskutieren wir anhand der regionalen Geologie und unserer Ergebnisse zur Erosion in der Quebrada del Toro – der Schlucht des Stieres. Wir fahren nach Westen durch die immer wiederkehrenden Tabakfelder und Rinderfarmen und gelangen endlich zum Tor der Ostkordillere westlich der Stadt Salta.
Sofort fallen uns die haushohen Berge von Geröll auf, das fast täglich mit schwerem Gerät aus dem Flussbett gebaggert wird. Wenn dies nicht regelmäßig durchgeführt würde, wären in kürzester Zeit viele landwirtschaftlich genutzte Flächen sowie Straßenabschnitte und Brücken dieser wichtigen Verkehrsader zwischen dem Hochgebirge und der Vorlandregion zugeschottert. Die extreme Aufschotterung des Flusstals ist Gegenstand kontroverser Diskussionen, die von der Möglichkeit des Einflusses des Klimawandels, anthropogener Nutzung sowie natürlicher Sedimenttransport-Variabilität geprägt werden. Durch unsere Studien konnten wir allerdings herausfinden, dass sich innerhalb der letzten 30 Jahre das Niederschlags- und Abflussverhalten grundlegend verändert hat: Die Niederschlagsmenge ist gleichgeblieben, aber die Verteilung innerhalb der Regensaison und die Niederschlagsintensität haben die Anzahl der Extremereignisse verändert. Bei diesen Extremereignissen werden große Mengen an Sediment durch Murgänge mobillisiert und dem Flussnetz zugeführt, sodass die Flüsse im Laufe der Zeit in ihrem eigenen Schutt „ertrinken“. Aber nicht nur die Flüsse sind davon betroffen. Am Eingang der Quebrada steht noch ein altes Dampfross – ein Modell der Firma Baldwin, aber 1921 in Santa Fe, Argentinien gefertigt – mit einem sogenannten Cow Catcher (Kuhfänger) als Schienenräumer im Heimatmuseum. Früher bahnte es sich damit den Weg durch die gefährliche Strecke, aber das Aufkommen des Schutts ist mittlerweile so enorm, dass die ins Hochland führende Bahnlinie aufgegeben werden musste. Zunächst diente diese Bahnlinie dem Gütertransport für Rohstoffe, aber ab den 1970er Jahren wurde die Strecke auch für den touristischen Tren a los Nubes verwendet. Allerdings führten wiederholte Murgänge und Unterspülungen zu Störungen und Evakuierungsmaßnahmen. Die Bahnlinie wurde von dem amerikanischen Ingenieur Richard Maury konzipiert und ab 1921 gebaut; sie gilt immer noch als technische Meisterleistung mit zahlreichen Serpentinen und Brücken, die einen Höhenunterschied von über 3.000 Metern überwindet und Salta mit der chilenischen Grenze sowie den Minen im Puna-Hochland verbindet.
Aber zurück zu unseren Ergebnissen. Unsere Erosionsratenbestimmungen mittels des kosmogenen Nuklids Beryllium-10 zeigen, dass diese Grenzregion zwischen einem humiden Vorlandklima und dem ariden Klima im Inneren des Gebirges durch hohe Erosionsraten charakterisiert ist. Die Erosionsraten sind dort am höchsten, wo Niederschläge in das Gebirge eindringen können und die Gesteine des stark deformierten Grundgebirges aufgeschlossen sind. Wir sind beeindruckt und müssen das ganze Geschehen erst einmal in uns aufnehmen. Was könnte besser sein, als eine Mittagspause auf einer kleinen grünen Wiese mit Bollo (selbstgebackenes Brot) und Queso de Cabra (Ziegenkäse), die wir bei einem Bauern in der Nähe der Straße kaufen? Wir essen und diskutieren, müssen aber bald abbrechen und unsere Fahrt in Richtung Anden-Plateau fortsetzen, denn es blitzt und donnert in der oberen Talregion – wir haben gelernt, dass man sich hier unter solchen Bedingungen lieber nicht in den tieferen Talregionen aufhalten sollte.
Zur Übersichtsseite des Reisetagebuchs „Unterwegs in den Anden 2021“