Wissenschaft geht immer weiter: manchmal einen Schritt vor- und zwei rückwärts, dann wieder mit großen Sprüngen neuen Entdeckungen entgegen. Dabei bleiben auch radikale Kurswechsel nicht aus, bei denen jemand einen lange beschrittenen Pfad als Sackgasse erkennt, das Unterste nach oben kehren und ganz neu beginnen will.
Kopernikus war so einer. Mitte des 16. Jahrhunderts rückte er die Sonne – statt der Erde – in den Mittelpunkt seines Weltbildes. Die Konsequenzen waren gewaltig, immerhin verlor in der Folge die Kirche ihre Hoheit über die Welterklärung an die Naturwissenschaften. Das war derart radikal, dass man später auch anderen revolutionär anmutende Gedanken und Denker zur „Kopernikanischen Wende“ erhob: Kants „Kritik der reinen Vernunft“ von 1781 etwa. Oder Ludwig Wittgenstein und andere, die Anfang des 20. Jahrhunderts darauf bestanden, dass Sprache die Art, wie wir die Welt erfassen und beschreiben, wesentlich mitprägt. Auch diese linguistische Wende war so umfassend, dass sie zahlreiche andere Wissenschaften „mit sich riss“, naturgemäß vor allem jene, die sich intensiv mit Sprachen befassen oder ihrer bedienen: die Geistes- oder, wie sie seit dem Cultural Turn auch gern genannt werden, die Kulturwissenschaften. Da die internationale Wissenschaftslandschaft inzwischen auf Englisch kommunizierte, wurde aus der „Wende“ alsbald der „Turn“. Und davon gab es seit Mitte des 20. Jahrhunderts reichlich – den Spatial Turn, den Iconic Turn, den Material Turn, den Performative Turn, den Postcolonial Turn, den Graphic Turn … Spätestens jetzt drehte sich alles, mitunter sogar im Kreis. Turns wurden verkündet, kritisiert, zurückgenommen, vom nächsten Turn „kassiert“. Es scheint fast so, als sei der große Hit der „Byrds“ von 1965 ein frühes Zeugnis dieser „Turnomanie“. Immerhin sangen sie unter dem Titel „Turn! Turn! Turn!“ ein Hohelied auf den Wechsel saisonaler Moden: „To everything – turn, turn, turn / There is a season – turn, turn, turn / And a time to every purpose under heaven“. Im Übrigen eine Adaption eines alttestamentarischen Bibelverses.
Irgendwann wurde auch den Forschenden klar, dass die Ausrufung immer neuer Turns kein zwingendes Indiz für gute Wissenschaft und eine wirklich radikale Neuerung ihrer Disziplinen bildete. Im Gegenteil: Wer im Rhythmus der halbjährlichen Modeschauen von Paris und Co. Die Runderneuerung wissenschaftlicher Grundsätze propagiert, läuft durchaus Gefahr, sich dem Vorwurf auszusetzen, Effekthascherei zu betreiben. Gewiss: Wer die Welt aus den Angeln hebt und einen grundlegenden Neuanfang einer Wissenschaft betreibt, erhebt zu Recht den Anspruch, diesen auch so zu nennen. Eine Wende ist eine Wende. Gleichzeitig sollte Forschung sich nicht vom allumfassenden Paradigma, nur die Entdeckung des absolut Unbekannten sei noch echter wissenschaftlicher Fortschritt, treiben lassen. Wissenschaft kommt oft nur in kleinen Schritten voran, und manchmal führen sie eben ein Stück zurück, ehe der nächste, so winzig er sein mag, den Durchbruch bringt. Und sie vielleicht alle gemeinsam die Erkenntnis ermöglicht haben.
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal 2/2019.
Text: Matthias Zimmermann
Online gestellt: Magda Pchalek
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