Die Geschichte der mechanischen Klaviere ist eigentlich eine traurige“, sagt Stephanie Probst. „Als in den 1920er Jahren das Grammophon aufkam, wusste niemand mehr, was mit den mechanischen Klavieren zu tun ist. Sie wurden in verstaubte Ecken gestellt und vergessen.“ Das um 1900 erfundene Instrument, das ähnlich einer Drehorgel selbstständig Musik spielt, ist das Spezialgebiet von Dr. Stephanie Probst, die es mit ihrer Forschung wieder ins Rampenlicht rückt.
Seit Juli 2019 ist Probst im neuen Postdoc-Programm der Universität Potsdam. Dafür gab sie sogar ihre Stelle an der Universität Cambridge auf, wo sie an einem Projekt zur Mechanisierung von Musik arbeitete. Seit Langem beschäftigt die Wissenschaftlerin, wie man Musik aufschreibt: Schließlich gibt es mehr Möglichkeiten, Klänge zu verschriftlichen, als das klassische Notensystem. „Das Feld ist im Wachsen – nicht erst durch neue, audiovisuelle Software zur Transkription und Animation von Musik. Auch die technischen Aufzeichnungsformen des 19. Jahrhunderts geraten mehr und mehr ins Blickfeld der Wissenschaft“, sagt Probst. „Gerade in Potsdam tut sich auf diesem Gebiet viel.“ So forscht Professor Christian Thorau, der ihr Postdoc-Projekt in Potsdam betreut, zur Geschichte des Programmhefts, während eine Kollegin am Lehrstuhl die digitalen Möglichkeiten, Tonkunst zu transkribieren, untersucht.
Die Musik liegt der Wienerin übrigens im Blut: Die Mutter ist Organistin, der Vater Pianist. Mit zehn Jahren begann sie Geige zu spielen, mit 18 Bratsche. Auf dem Gymnasium wurde Probsts Neugierde für Musiktheorien geweckt: „Ich hatte eine tolle Lehrerin, die uns Geschichte und Werkanalysen vermitteln konnte. Sie hat stets den größeren Kontext gesehen.“ So studierte Stephanie Probst in Wien Musikwissenschaft, Musiktheorie und Viola. Übrigens ist ihr Vater nicht nur Pianist, sondern auch promovierter Mathematiker. Vielleicht rührt es daher, dass Probst sich immer schon auch für Mathematik begeisterte. Die Forscherin sieht Allianzen zwischen beiden Disziplinen: „Die Verbindung der beiden Bereiche hat eine lange Geschichte; eine Gemeinsamkeit liegt darin, dass sie Diagramme zur Darstellung logischer Ordnungen nutzen.“
Als Doktorandin an der Harvard University in den USA entdeckte Probst ihr Interesse an Musiktheorien, die auf geometrischen Figuren basieren. Ihre Dissertation befasste sich mit der Linie als Metapher für die Melodie: „In der Musiktheorie um 1900 steht die Linie metaphorisch für die Gesamtheit der Töne einer Melodie oder auch eines ganzen Musikstücks, sie verbindet die Einzeltöne zu einem Ganzen“, erklärt Probst. Dieses grafische Verständnis der Melodie stammt eigentlich aus der Gestaltpsychologie, beeinflusste aber die Musikforschung der Zeit maßgeblich. „Der Abstraktionsgrad, um den die Musik und ihre Erforschung kreisen, fasziniert mich.“
Das mechanische Klavier hat es Probst daher auch nicht nur wegen seines Klanges, sondern vor allem wegen der Notenrollen in seinem Innern angetan. Die mit einer Lochschrift kodierte Rolle wird in das Klavier eingelegt, durch eine Mechanik abgespult und durch ein pneumatisches System klanglich wiedergegeben; die Stanzungen geben hierfür die Tonhöhe und Tondauer an. „Die Notenrollen sind maschinell hergestellt, aber für den Menschen lesbar“, erklärt Probst die Faszination. Und sie sind nicht symbolisch kodiert: Die geometrischen Formen erlauben es auch Laien unmittelbar zu erkennen, wie hoch oder wie lang ein Ton ist.
Am Pianola, der frühen Form mechanischer Klaviere, kann mittels zweier Tretbälge die Artikulation und Lautstärke der Musik reguliert werden. Ab 1903 war durch den sogenannten „Metrostyle“ in Form einer roten Linie zusätzlich eine Anleitung zur Gestaltung des Tempos vorgegeben. Dieser Linie konnte man durch das Verschieben von Handhebeln folgen, sie wurde oftmals vom Komponisten selbst handschriftlich hinzugefügt. Die Notenrollen sind folglich eine Mischung aus manueller und maschineller Notation. Aus Probsts Sicht haben die Ergänzungen eine didaktische Funktion: „Die Musik sollte, mit dem mechanischen Klavier und den aufbereiteten Notenrollen, in der Breite der Gesellschaft ankommen.“ Ein solches vermittelndes Potenzial erkannte auch der britische Pädagoge Percy A. Scholes in den 1920er Jahren und versah ausgewählte Rollen mit Anmerkungen, um die Hörer durch das gespielte Stück zu führen. Den Stanzungen in Johann Sebastian Bachs Fuge in B-Dur fügte er beispielweise die Beschreibung „laughing tune“, also „lachende Melodie“, hinzu. Laien sollten durch solche Kommentare stilistische Eigenheiten der Fuge heraushören lernen. Zu dieser Klavierrolle arbeitet Probst derzeit an einer wissenschaftlichen Videopublikation.
Die handschriftlichen Ergänzungen für das Metrostyle-Pianola waren laut Probst zugleich ein Vermarktungsgag: „Indem die Komponisten die Linie auf die Klavierrolle zeichneten, interpretierten sie ihr eigenes Werk und gaben eine sehr genaue Spielanleitung.“ Probst erkennt hier einen „maximalen Kontrast“ zwischen dem Geniekult und der mechanischen Musik – schließlich störe das Maschinelle das Bild des originären Schöpfers. „Manche Komponisten nutzten jedoch gerade das mechanische Klavier, um eigentlich unspielbare Stücke zu verfassen und aufführen zu lassen.“ Zum Beispiel Werke, für die man mehr als zehn Finger bräuchte oder die zu schnell für die menschliche Motorik sind. Komponisten der musikalischen Moderne wie Conlon Nancarrow komponierten schließlich nur noch für das Pianola, auch Vertreter der Deutschen Moderne wie Paul Hindemith und Ernst Toch verfassten quasi unspielbare Werke für das automatische Klavier.
Wie Probst waren auch die Künstlerinnen und Künstler am Bauhaus, das dieses Jahr sein 100-jähriges Jubiläum feiert, fasziniert von der Geometrie der Musik. Wassily Kandinsky oder Paul Klee setzten Kompositionen in ihren Werken grafisch um. Und der Künstler Henrik Neugeboren übertrug Bachs Fuge in es-moll aus dem „Wohltemperierten Klavier“ auf Millimeterpapier und nahm die geometrischen Formen als Skizze für seine Skulptur „Hommage à Bach“, die heute in Leverkusen steht. „Sie ist nicht nur sichtbar, sondern auch tastbar – und in gewisser Weise hörbar“, sagt Probst.
Dieser Artikel erschien im Universitätsmagazin Portal 2/2019.
Text: Dr. Jana Scholz
Online gestellt: Jana Scholz
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