Heute vor 100 Jahren übernahmen die russischen Bolschewiki gewaltsam die Macht über das Land. Sie errichteten eine „Diktatur des Proletariats“, eine kommunistische Regierung unter Führung Wladimir Iljitsch Lenins. Die Folgen dieses weltgeschichtlichen Ereignisses sind bis in die Gegenwart spürbar. Ivan Kulnev, Absolvent der Philosophischen Fakultät, setzt sich künstlerisch mit dem Erbe der Russischen Revolution auseinander. Die Posterausstellung „Das sowjetische Experiment“ zeigt über 40 Reproduktionen seiner Collagen und ist noch bis Ende November im Außenfoyer des IKMZ in Golm zu sehen. Initiiert wurde die Schau von der Philosophischen Fakultät mit Unterstützung der Universitätsbibliothek.
„Ich bin nicht nur Künstler, sondern in erster Linie Historiker“, sagt Ivan Kulnev. Seit über zehn Jahren lebt Kulnev in Berlin. Seit vielen Jahren arbeitet er in Gedenkstätten: in Sachsenhausen, Hohenschönhausen und in der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, konzipiert er nächtelang Collagen. „Kunst fasziniert mich, und Kunst ist mein Trost“, sagt Kulnev. Fotografien, Zeitungen, Gemälde, Karikaturen – sogar Tapeten und Textilien werden Teil eindringlicher Kompositionen. Wie hat der Mensch in der Sowjetzeit gelebt? Was hat ihn fasziniert, was waren seine Ängste? Diese Fragen erkunden seine Collagen. In mühsamer Feinarbeit fügt er mit Kleber und Schere Fragmente der sowjetischen Alltagskultur zusammen. Besonders wichtig ist ihm dabei die wissenschaftliche Genauigkeit. „Jedes Detail hat Bedeutung.“
Der 32-Jährige studierte in Potsdam Polonistik und Russistik, an der Humboldt-Universität zu Berlin schloss er ein Studium der Kulturen Mittel- und Osteuropas an. In seiner Geburtsstadt Woronesch hatte Kulnev bereits Geschichte und Germanistik studiert. Seit Jahren besucht er deutsche und russische Archive. Wenn er ein Objekt findet, das ihn fasziniert, erstellt er ein Faksimile oder ein Foto. Etliche Stunden hat er schon im Keller der städtischen Bibliothek Woronesch verbracht, in dem russische Zeitungen archiviert sind. Manchmal stößt er auf durchgestrichene Textpassagen oder Fotografien mit geschwärzten Gesichtern. „Das ist typisch für die stalinistische Ära“, erklärt der Historiker. Als es 1948 zum Bruch Stalins mit dem jugoslawischen Diktator Josip Broz Tito kam, sollten Schülerinnen und Schüler in ihren Büchern ganze Passagen zum ehemaligen Verbündeten streichen.
„Die Bedeutung der Oktoberrevolution ist kolossal“, sagt Kulnev. Er persönlich betrachtet dieses Ereignis als eine Katastrophe, denn sie sei der Ausgangspunkt jahrzehntelanger Unterdrückung gewesen. Nur zehn Jahre nach der Revolution ergriff Josef Stalin die Macht. Millionen von Menschen starben unter seiner Herrschaft. „Der 100. Jahrestag der Oktoberrevolution ist zugleich der 80. Jahrestag des ‚Großen Terrors‘“, so Kulnev. Allein zwischen Juli 1937 bis November 1938 ließ das Regime etwa 1,5 Millionen Menschen verhaften. Die Hälfte der Verhafteten kam in Gulags oder Gefängnisse, die andere Hälfte wurde erschossen. Tod, Folter und Verfolgung sind ein zentrales Thema in Kulnevs Collagen.
Lenins und Trotzkis Neue Ökonomische Politik der 1920er Jahre, Stalins Herrschaft, die regressive Führung Leonid Breschnews ab den 1960er Jahren und die Gorbatschow-Ära, die das Ende der Sowjetunion einleitete: für Ivan Kulnev sind dies Etappen des „sowjetischen Experiments“, das mit der Revolution begann. Noch heute sei Russland von der Sowjetzeit geprägt. „Eine Aufarbeitung hat praktisch nicht stattgefunden. Es liegt wohl nicht im Interesse des Staates, an die Geschichte zu erinnern.“ Das möchte Kulnev ändern und bringt seine Kunst auch nach Russland. Derzeit stellt er im Moskauer Sacharow-Zentrum die Originale seiner Collagen aus.
Am Donnerstag, den 30.11.2017 um 18:30 Uhr bietet Ivan Kulnev eine Führung durch die Ausstellung an. Treffpunkt ist im Foyer des IKMZ in Golm.
Mehr zur Ausstellung gibt es hier.
Text: Jana Scholz
Online gestellt: Matthias Zimmermann
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