In Rimella gibt es keine öffentlichen Verkehrsmittel oder Fahrräder mehr. Während wir hier sind, werden wir alles zu Fuß erkunden. Heute starten wir zu unserer ersten Trekkingetappe, die uns hinauf zur Bocchetta di Campello auf 1.924 Meter Höhe führen wird. So erfahren wir gleich zu Beginn am eigenen Körper, wie sich Natur und Geografie auf die Lebensweise auswirken. Wir laufen auf dem Weitwanderweg „Grande Traversata delle Alpi“ (GTA), einem sanften Tourismusprojekt, das für viele Posto-Tappa-Betreiber in dieser Region die Lebensgrundlage bildet. Die Trekkingtouristen, die auf den kilometerweiten Wegen der GTA laufen, können die Alpen in 68 Etappen von Nord nach Süd mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden durchqueren. Seit 1981 bildet dieses Tourismusprojekt den Versuch, den Einheimischen eine Verdienstmöglichkeit zu schaffen. Gleichzeitig sollen so die einzigartigen Ökosysteme in der Bergregion geschützt und erhalten werden. Über den Kirchplatz führt uns der Weg schon zu Beginn steil hinauf. Wir laufen am Friedhof vorbei und immer bergauf in Richtung Alpe Pianello. Wir sehen kleine Felder mit Kartoffeln, Mangold und Zwiebeln. Hier wird durch das sogenannte „Räumen“ Kulturland geschaffen. Schnell merken wir, wie beschwerlich und mühselig schon kleine Etappen für uns Großstädter sind, und stellen uns vor, was es bedeutet, Tag ein, Tag aus ohne Tram und Fahrrad zu leben. Auch der Zeitfaktor ist deutlich spürbar und ganz unterschiedlich im Vergleich zu unserer eng getakteten und durchgeplanten Stadtwelt. Wir laufen nur mit einen mittelschweren Rucksack und Nico mit Kameragepäck. Wir passieren Heuhaufen, die am frühen Morgen gesenst wurden und frisch aufgetürmt liegen. Immer wieder sehen wir Seilwinden, die den Transport in höher gelegene Häuser erleichtern. Alles, was zum Leben benötigt wird, müssen die Einwohner in ihre Häuser hinauftragen. Weiter auf dem Weg Richtung Bocchetta wandern wir durch kühlere und schattigere Wälder, am Wegrand stehen junge Erdbeerpflanzen. Die Wälder in der Talsohle bestehen aus Eichen- und Kastanienbäumen. Dazu kommen Buchen und Akazien, mit deren Früchten das Vieh gefüttert wird. Getrocknete Äste aus diesen Haus- und Kulturwäldern lagern auf den Dachböden der Walserhäuser – als Futterreserve für die strengen Winter. Kapellen am Wegesrand zeigen uns, dass die Menschen hier oben die Nähe zu Gott suchen. Das Leben und die Arbeit sind nicht ungefährlich. An den steilen Klippen kommt es oft zu Abstürzen und Unfällen, gerade wenn die Holzfäller im Winter die Stämme per Schlitten ins Tal befördern. Am Posto dei Morti machen wir eine kleine Pause. An dieser Kapelle wurden die „in der Fremde“ Verstorbenen, die man im Frühsommer über die Bocchetta di Campello aus dem Val Strona zurück nach Rimella trug, von Pfarrer und Rimellesen abgeholt und zum Friedhof geleitet.
Bald haben wir die Baumgrenze überschritten. Die Wege werden steiler und steiniger. Es geht zum Teil nur sehr langsam voran. Gegen Mittag sind wir am Gipfelkreuz in 1.924 Metern Höhe angelangt. Das Tal liegt unter uns und der Panoramablick über die Monte Rosa Gruppe ist unbeschreiblich schön. Die Alpe Pianello, auf die die Hirten im Sommer ihr Vieh treiben und Käse herstellen, hat mehrere Hütten. Sie sind noch mit Steinplatten verschlossen, aber wir sehen, wie einfach das Leben hier oben sein muss. Nur ein paar Solarplatten auf den Dächern zeigen einen minimalen Fortschritt an, gekocht wird auf Gaskochern, das Wasser kommt aus Schläuchen, das über das Siphonprinzip aus Quellen in die Nähe der Häuser geleitet wird. Nach einer kleinen Stärkung laufen wir weiter über den Kamm mit Sicht auf zwei halb verlassene Siedlungen, La Rondecca und San Giorgio. Neben uns schlängelt sich ein kleiner Flusslauf, künstlich angelegt, um die Almwiesen zu bewässern. Wir suchen uns ein schönes Plätzchen und hören Christines Referat über den GTA, durch den die Landflucht gestoppt werden soll(t)e. Danach steigen wir – hochkonzentriert – auf schmalen Nebenpfaden nach Rimella ab und erleben den Rückweg mit allen Sinnen. Das Bachplätschern, den Duft der Wiesen, die Wärme der Sonne, die am Abend deutliche Spuren auf unserer Haut hinterlassen hat, den Viehgeruch. Für uns eine völlig neue Raum- und Körpererfahrung.
Text: Fleur-Christine Schröder
Online gestellt: Agnetha Lang
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuuni-potsdampde
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