„Qom“, so erklärt unser Reiseführer, der selbst aus der Stadt stammt, „gilt den meisten Iranern als ein urbaner Unfall – den übrigen gar als Katastrophe.“ Dass Qom dennoch im schiitischen Islam eine wesentliche Rolle einnimmt, liegt in seiner Bedeutung als Wallfahrtsort und als theologisches Wissenschaftszentrum begründet.
Mitten im Stadtzentrum befindet sich die Grabmoschee der Fatemeh Masouleh – ein gewaltiger Gebäudekomplex mit einer mystischen Atmosphäre, der einem separaten Stadtteil gleicht. Fatemeh, die fromme und gebildete Tochter des siebten Imams Musa al-Qasem (745–799) soll hier im Jahr 816 auf der Reise von Medina nach Tus verstorben und beigesetzt worden sein. Da die „Sündlose“ und „Unfehlbare“ als die bedeutendste Heilige des schiitischen Islam gilt, etablierte sich ihr Grab zu einer Pilgerstätte ersten Ranges. Nach der vollständigen Zerstörung der Stadt während des „Mongolensturms“ bauten die Safawiden die Stadt wieder auf.
Es war vor allem Schah Abbas I., der den Ausbau des Grabheiligtums fokussierte, um (auch aus ökonomischen Gründen) die Pilgerströme von den eigentlich bedeutenderen Heiligtümern im Irak anzuziehen. Als religiöser Standort nahm Qom im 20 Jahrhundert eine zunehmend wichtige Rolle ein: Maßgeblich hierfür waren erstens die Reform des traditionellen, theologischen Lehrbetriebs in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts und die sukzessive Errichtung von etwa 100 theologischen Instituten. Zweiter Grund war die nachlassende Bedeutung der schiitischen Gelehrtenschulen im Irak, die nach dem Zweiten Weltkrieg das britische Mandat unterstützten. Die zumeist jüngeren, antiimperialistisch eingestellten Gelehrten zogen ins Exil und verstärkten die Schulen in Qom.
Drittens erfolgte in den letzten Dekaden der Ausbau der Masjid-e-Jamkaran zu einem der größten schiitischen Heiligtümer. Der Überlieferung zufolge soll sich die Erlösergestalt Muhammad al-Mahdi, der „verborgene zwölfte Imam“, an diesem Ort in die Verborgenheit begeben haben. Man nimmt an, dass er von hier aus zusammen mit Isa ibn Maryam (Jesus von Nazareth) wieder in Erscheinung treten und die Menschheit retten wird. Dadurch, dass die Verfassung der Islamischen Republik Iran von 1979 den zwölften Imam als eigentliches Staatsoberhaupt betrachtet, wurde dem Ort, an dem er in seine Verborgenheit verschwand, zuletzt verstärkt Aufmerksam zuteil.
Akademischer Höhepunkt unserer Iran-Exkursion ist die Konferenz mit dem Thema „Methodology in Religious Studies“, die in den Räumen unseres Kooperationspartners, der University of Religions and Denominations, stattfindet. Die Konferenz untergliedert sich in die vier parallel stattfindende Panels „Sociology“, „Gender Studies“, „Law“ und „Philosophy“, von denen jedes aus jeweils drei Vorträge von der iranischen und drei Vorträge von der deutschen Seite besteht. Nachmittags finden wir uns im gesamten Plenum zusammen und zuvor ausgewählte „Berichterstatter“ aus den jeweiligen Panels fassen die wichtigsten Thesen und Diskussionspunkte daraus zusammen, über die wiederum diskutiert werden kann. Dieses Verfahren ist etwas kompliziert, führt zu inhaltlichen Doppelungen und sogar Missverständnissen, da einige Referenten ihre These nicht mehr in den Kurzfassungen der Berichterstatter wiedererkennen können. Andererseits scheint dies doch eine annehmbare Minimallösung zu sein, um die einzelnen Debatten allen Teilnehmern zugänglich zu machen, eine übergreifende Kommunikation und eine Atmosphäre des Miteinanders entstehen zu lassen.
Flankiert werden die verschiedenen Abende der Konferenz durch ein intensives Programm mit geselligen Abendessen und kleineren Ausflügen. So besuchen wir die Masjid-e-Khizer, eine Moschee, die auf einem hohen Berg außerhalb von Qom liegt und von wo man einen phantastischen Blick auf die gesamte Stadt hat. Im Anschluss geht es zur oben beschriebenem Masjid-e-Jamkaran – seit einigen Dekaden einer der größten schiitischen Wallfahrtsorte.
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Text: Prof. Dr. Nathanael Riemer
Online gestellt: Agnes Bressa
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