Für heute sind etwa 300 Buskilometer angesagt, die auf iranischen Straßen gewöhnlich viel mehr Zeit in Anspruch nehmen als anderswo. Es gilt, wenigstens einen Teil der Mammutstrecke von Ardabil bis nach Qazvin, der nächsten ehemaligen Hauptstadt des safawidischen Reiches zu bewältigen. Das wesentliche Hindernis ist das Elburs-Gebirge, das an seinen höchsten Stellen über 5600 Kilometer hoch ist und in der iranischen Mythologie – vor allem in Fidausis berühmtem Heldenepos „Schahname“ (Buch der Könige) – eine wichtige Rolle spielt. Die lange Reise führt uns durch mehrere Klimazonen, von denen die feuchtwarme Nordseite des Gebirges mit ihren mystisch-nebelverhangenen Urwäldern eine irritierende Abwechslung zur bislang gewohnten trockenen Höhenluft darstellt.
Abends erreichen wir Masuleh, ein kleines, über 1000 Meter hoch gelegenes Bergdorf, das sich – in Terrassen angelegt – an den Nordhang des Elburs-Gebirges schmiegt. Statt Straßen schlängeln sich enge Gassen mit zahlreichen Treppen zwischen den mit Holzschnitzereien verzierten Häusern bergaufwärts. Auffällig ist, dass die Flachdächer der unteren Hauspartien die Gehwege und Vorplätze für die darüberliegenden Hauspartien bilden. So verwundert es nicht, dass der Ort bei iranischen Touristen überaus beliebt ist. Neben zahlreichen schmucken Teestuben und Grillrestaurants reihen sich unzählige Geschäftsräume aneinander, die mehr oder weniger alle den gleichen Nippes zum Kauf anbieten. So heterogen und divergent sich uns die iranische Gesellschaft präsentiert, scheint sie sich in Hinblick auf den Konsum und die Ausgehkultur auf einen Minimalkonsens geeinigt zu haben. Ein bergabziehendes Starkgewitter veranschaulicht an diesem Abend den Grund für die üppige Vegetation mit zum Teil riesigen Buchen und treibt uns zur Abwechslung recht frühzeitig ins Hotel.
An dieser Stelle kann der Bericht über die Einladung in die Familie Mansuri-Rahimi in Ardabil am 15.9. nachgereicht werden. Die Einladung kam durch die mitreisende Dozentin Dr. Asya Asbaghi zustande und war fraglos ein Paradebeispiel für die iranische Gastfreundschaft und Küchenkultur. Bereits das Äußere der Stadtvilla zeigte an, dass wir – mitsamt der beiden Reiseführer gut 30 Personen – in der gehobenen Bürgerschicht zu Gast sein sollten. Im zweiten Stockwerk, einem riesigen Wohn- und Esszimmerbereich, der mit mehreren Sitzgruppen barocker Polstermöbeln ausgestattet war, wurden wir von der Großfamilie aufs Herzlichste begrüßt. Im Vordergrund der Begegnung standen die zwei Hausdamen, die sich als Schwestern vorstellten und uns ihre verschiedenen Töchter und Nichten präsentierten. Die beiden Hausherren blieben vollständig schweigsam und auch die zwei Söhne spielten offensichtlich nur eine nebengeordnete Rolle. Wie die Damen uns gegenüber betonten, hatten sie die diversen Vorspeisen, Hauptgerichte und Desserts des ungemein reichlich ausgestatten Buffets selbst hergestellt. Trotz der Anwesenheit sehr fremder Männer hatten (fast) alle weiblichen Familienmitglieder demonstrativ das Kopftuch abgelegt, sodass die Teilnehmerinnen unserer Reisegruppe erleichtert aufatmeten und sich schleunigst Luft verschafften. Die schweren Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen. Man war unter sich, privat.
Spätestens hier wurde deutlich, dass die iranische Gesellschaft ganz verschiedene Gesichter hat; beide lassen sich an vielen Stellen beobachten: auf der einen Seite beispielsweise das Kopftuchgebot und die strikte Vermeidung von Berührungen zwischen den Geschlechtern bei Begrüßungen, auf der anderen Seite Unisextoiletten in zahlreichen Restaurants und die weit ausgeschnittenen Abendkleider in den Schaufenstern von Geschäften. Wie uns später erklärt wurde, bildet die strikte Unterscheidung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich eine Kompromisslösung für alle Seiten: Solange man nach außen hin ein guter schiitischer Moslem ist, sind nach innen Freiheiten möglich.
Vor einem Jahr brachte eine Referentin diese Position mit folgenden Worten auf den Punkt: „Von mir aus kann jeder Christ, Atheist oder Jude sein, aber bitte in seinen eigenen vier Wänden.“
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Text: Prof. Dr. Nathanael Riemer
Online gestellt: Agnes Bressa
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