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Unterwegs im Iran – 15. September, Ardabil: Von Nomaden im Sabalan-Gebirge zu Sufi-Kulturen in den Niederungen

Steinstele im Archäologischen Museum Ardabil, Foto: N. Riemer
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Steinstele im Archäologischen Museum Ardabil, Foto: N. Riemer

Ardabil war von der Ausbreitung des Islams im 7. Jahrhundert bis zum Einfall der Mongolen im 13. Jahrhundert die bedeutendste Stadt der iranischen Provinz Aserbaidschan. Nach ihrer Zerstörung und der Tötung der Bewohner blieb sie rund drei Jahrhunderte verlassen. Dies änderte sich mit dem Auftritt des schon erwähnten Ismail I., dem Begründer der Safawiden-Dynastie, unter dessen Herrschaft die Stadt wieder zu einem Zentrum erblühte.

Früh morgens geht es zunächst in das Sabalan-Gebirge (4811 Meter) – nicht nur, um die aus Jurten bestehenden Nomaden-Siedlungen zu besichtigen. Überlieferungen zufolge soll Zarathustra das heilige Buch Gottes, die Avesta, auf dem Berg Sabalan erhalten haben und selbst dort beerdigt worden sein. Der Sabalan gilt als inaktiver Vulkan, dessen warme Quellen und Heilbäder von den Iranern zur Erholung aufgesucht werden. Als Attraktionen für die inländischen Touristen existieren auf seinen Höhen Skigebiete mit Liften, Basislager für Bergsteiger und Kamele für Ausritte. Wir werden Augenzeugen, wie Schafe und Ziegen geschlachtet und in ihre diversen Kleinteile kunstvoll zerlegt als Gaumenfreude der Bergbesucher auf dem Grill landen. Zum Mittagessen werden wir von einer iranischen Mittelstandsfamilie eingeladen – ein Event, über das später noch berichtet werden soll.

Ardabil verfügt über eine mystische Attraktion: das Grabheiligtum des Safi ad-Din Ardabili (1252-1334), der in seiner ehemaligen Wirkungs- und Wohnstätte bestattet wurde. Safi ad-Din ist nicht nur der Namensgeber der Safawiden-Dynastie und Urgroßvater von Ismail I., sondern war ein sunnitischer Sufi-Meister. Obschon zum schiitischen Islam konvertiert, hinderte dies weder Ismail I. noch seine nachfolgenden politischen Herrscher daran, die Grabmoschee sukzessive auszubauen und sich selbst hier beerdigen zu lassen. Das in verschiedenen Etappen zwischen dem 16. und dem 18. Jh. entstandene Gebäudeensemble ist eine Mikrostadt mit einem Bazar, einem öffentlichem Bad, einer Schule, einem Krankenhaus, einer Moschee und Verwaltungseinheiten und gilt als eines der wichtigsten Zentren des Sufi-Mystizismus. Der Weg zum Schrein des Scheichs führt über sieben verschiedene Stationen, die durch acht Tore voneinander getrennt sind und somit theologische Aspekte des Sufismus widerspiegeln. Uns faszinierte vor allem ein Vorraum, deren Kuppeln von innen mit Mustern aus Blattgold ausgelegt sind und die Abendsonne zurückwerfen.

Im Anschluss besuchen wir noch ein archäologischen Museum, das neben einer berühmten Porzellansammlung von Schah Abbas drei menschenähnliche Steinfiguren enthält, die uns sehr an Comicfiguren erinnern. Für ein muslimisches Land können menschliche Figuren eine Besonderheit sein. Auf unsere Frage, aus welcher Zeit und Kultur die Steinfiguren stammen und was sie darstellen, erhalten wir wiederholt nur die knappe und abweisende Antwort: „pre-historic era“, was hier so viel wie „pre-islamic era“ zu heißen scheint. Mehr will die führende Archäologin nicht sagen.

Obwohl wieder vollständig übermüdet, steht abends ein ganz besonderer Programmpunkt an, der als ur-iranisch gilt und die vorislamische Zeit mit der Ausbreitung des schiitischen Islam verbindet. Die Zurkhaneh ist ein „Fitnessraum“, in dessen Mitte sich ein um ein Meter vertiefte, achteckige Absenkung mit Holzboden befindet. Sie ist der Ort für den „heldenhaften Sport“ (varzesh-e pahlavani) bzw. „alten Sport“ (varzesh-e bastany) – einer Zusammensetzung aus Krafttraining (u.a. Liegestützen), Kampfkunst (Ringen) und Artistik (Jonglieren), der mit Bechertrommel, Glocke und Gesang musikalisch begleitet wird. Dieser Sport hat seine Wurzeln in der vorislamischen Kultur und wurde maßgeblich vom Zoroastrismus beeinflusst, in dem man davon ausging, dass die physische und seelische Stärke des Menschen seine Spiritualität positiv beeinflusst. Zunächst war dieser Sport ein ganzheitliches Fitnessprogramm für die Krieger, das mit ethisch-moralischen Idealvorstellungen wie zum Beispiel Respekt vor dem Anderen und Hilfe für Schutzbedürftige verbunden wurde. Als die Araber im 7. Jahrhundert Persien eroberten und islamisierten, galt diese Sporttradition zunächst als Hort des Widerstandes und wurde zurückgedrängt. Mit der Ausbreitung des schiitischen Islam und dem Auftreten des Sufismus im 8. Jahrhundert nahm sie mystische Elemente auf und konnte sich im 14 Jahrhundert endgültig etablieren. Als eine Sportveranstaltung mit „halbnackten, schwitzenden Männern“ werden uns die Zurkhaneh-Traditionen mit leicht erotischem Duktus angekündigt, sodass einige vom Körpergeruch und dem Anblick älterer Männer irritiert sein mögen. Als Entschädigung beeindruckt der Trommler, ein fülliger Zwei-Meter-Mann, der mit seiner außergewöhnlichen Percussion und tiefen Stimme die mystischen Elemente dieser Sportart akustisch „anschaulich“ macht und zu Meditationen einlädt. 

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Text: Prof. Dr. Nathanael Riemer
Online gestellt: Agnes Bressa
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde