Im Sommer 2010 zündete der polnische Performancekünstler Rafał Betlejewski eine Scheune an - im Gedenken an das Massaker von Jedwabne: In der polnischen Kleinstadt war 1941 die jüdische Bevölkerung von nichtjüdischen Bewohnern in einer Scheune zusammengetrieben und bei lebendigem Leibe verbrannt worden. Was hat Betlejewskis Gedenkaktion damit zu tun, dass an der Ostküste Australiens jährlich Wiederaufführungen der Entdeckung des Kontinents durch James Cook stattfinden oder der Schweizer Regisseur Milo Rau "Die letzten Tage der Ceausescus" nachinszenierte? Es sind so genannte Reenactment-Projekte. Sie wiederholen vergangene Ereignisse, machen historische Bilder in der Gegenwart präsent und Geschichte nacherlebbar.
Reenactments haben seit einigen Jahren in der populären Kultur, in Kunst und Medien, aber auch als Thema in den Geisteswissenschaften eine hohe Konjunktur. Ob nun in Form historischer Rollenspiele, als Wiederaufführungen historischer Schlachten oder als performative Re-Inszenierungen vergangener Ereignisse - die Spielarten des Reenactments sind vielfältig. An der Universität Potsdam beschäftigen sich die Slawistin Prof. Dr. Magdalena Marszałek und die Anglistin Prof. Dr. Anja Schwarz mit aktuellen Erscheinungsformen des Reenactments und ihrer Bedeutung für heutige Gedächtniskulturen. Sie haben gemeinsam ein Seminar zu diesem Thema durchgeführt und im letzten Wintersemester eine Vortagsreihe zusammen mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) veranstaltet. Nina Weller sprach mit den Wissenschaftlerinnen.
Frau Marszałek, Frau Schwarz wie erklären Sie die gegenwärtige Konjunktur von Reenactment-Projekten?
Marszałek : Es ist nicht einfach, auf die Frage nach den Gründen dieses Phänomens zu antworten. Es hat generell mit unserer Zeitwahrnehmung zu tun: Wir leben in einer "breiten Gegenwart" (Hans Ulrich Gumbrecht), glauben nicht mehr an den Fortschritt und interessieren uns daher wenig für die Zukunft. Wir schauen lieber in die Vergangenheit und erinnern an die Geschichte in dichten Schleifen von Jahrestagen und anderen Gedenkritualen. Die gegenwärtige Erinnerungskultur ist darüber hinaus stark auf emotionales Nachempfinden der Vergangenheit ausgerichtet. Dies zeigt sich in unserer Einstellung zu Zeitzeugen, zu Orten als historischen Schauplätzen und zu historischen Artefakten als Spuren der Vergangenheit, die uns erlauben, die Geschichte unmittelbar zu 'erfahren' oder zu 'berühren'. Es ist dann nur noch ein kleiner Schritt zur Verkleidung und zum performativen Nachstellen, um sich in eine historische Figur zu versetzen und eine Illusion der Reise in die Vergangenheit am eigenen Leibe zu erleben.
Schwarz: Dabei ist jedoch interessant, dass Reenactments gleichzeitig auf ältere Traditionen der Vergangenheitsdarstellung zurückgehen und eine Reihe formaler Eigenschaften mit diesen teilen. So sind Passionsspiele auch eine Art Reenactment, d.h. eine performative Nachstellung vergangener Ereignisse; religiöse Rituale im Allgemeinen sollen häufig Begebenheiten Präsenz verleihen, die an den imaginierten oder realen Ursprüngen der Gemeinschaft liegen. Zumindest für den anglophonen Kulturraum lässt sich schließlich eine weitere Traditionslinie für Reenactments in den historischen Festzügen (historical pageants) finden, die ihre Ursprünge wie die Passionsspiele im Mittelalter haben, sich aber seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermehrt der Darstellung weltlicher Geschichtsereignisse widmeten. Diese Großveranstaltungen, die vor allem um die Jahrhundertwende sehr populär waren, bereiteten Vergangenes pädagogisch so auf, dass sie die Vorstellung einer gemeinsamen Geschichte und damit einer regionalen oder nationalen Identität vermittelten.
Was stellt nun das genuin Neue der gegenwärtigen Entwicklung dar?
Schwarz: Die gegenwärtige Konjunktur unterschiedlicher Reenactment-Formate ist in der Tat eine neue Erscheinung. Mit dem Begriff bezeichnet man seit etwa den 1960er Jahren -zunächst im englischsprachigen Raum - populäre Rekonstruktionen von historischen Ereignissen. Im Unterschied zu den von offizieller Seite organisierten Pageants begannen Laien sich verstärkt für die lokale Geschichte zu interessieren. Sie griffen das Motto der Oral History-Bewegung auf, das besagte "Dig where you stand"; sie standen wie diese für eine Demokratisierung und Popularisierung des Umgangs mit der Vergangenheit, weg vom Expertenwissen der Geschichtswissenschaft. Mit diesem Wechsel ging das Interesse für andere geschichtliche Inhalte einher, und es entwickelte sich der Wunsch nach anderen Formen der Erforschung und Vermittlung von Geschichte.
Marszałek: In jüngerer Zeit gehören dazu nicht nur populäre Inszenierungen von Schlachten und anderen historischen Ereignissen durch Hobby-Darsteller, sondern auch performative Nachstellungen als Fernsehformate, als 'Einlagen' in TV-Dokumentationen oder als Mittel der Museumspädagogik. In der Kunst spricht man erst seit etwa 15 Jahren vom Reenactment als Wiederholungsexperiment.
Schwarz: Eine These zu den Gründen für diese gegenwärtige Konjunktur, der wir auch in unseren Lehrveranstaltungen nachgegangen sind, besagt, dass unser kulturelles Gedächtnis derzeit einen Wandel erfährt und zunehmend das Format eines Bildgedächtnisses annimmt. Die US-Amerikanische Historikerin Alison Landsberg (2004) argumentiert beispielsweise, dass die technologischen Möglichkeiten der Massenmedien Menschen vermehrt dazu einladen, Erinnerungen an Ereignisse, die sie selbst nicht erlebt haben, zu ihren eigenen zu machen.
Marszałek: Es ist tatsächlich auffallend, dass viele Reenactments weniger die Ereignisse selbst als die medialen Bilder, vor allem Filme, imitieren. Dies gilt besonders für die Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Man hat den Eindruck, als ginge es darum, die medialen Bilder durch die körperliche Erfahrung in der performativen Nachstellung 'wiederzubeleben'. Populäre Reenactments gehen meist sehr unreflektiert mit dem Gebrauch von medialen Vorlagen um. In den künstlerischen Nachstellungen wird dagegen gerade dieser Aspekt oft zum wichtigsten Punkt des Experiments. Interessanterweise sagen beispielsweise sowohl Jeremy Deller als auch Milo Rau in Interviews, dass sie Ereignisse nachstellen, die sie von den Fernsehbildern aus ihrer Kindheit kennen. So setzen sie sich mit den medialen Bildern kritisch auseinander, wenn sie mit ihren Reenactments ein politisches Korrektiv der Interpretation von historischen Ereignissen erzielen (Deller) oder aber zum genaueren Hinschauen auf die Ereignisse der Revolution von 1989 zwingen wollen (Rau).
Gibt es für den ost- und mitteleuropäischen und den anglophonen Raum auffallende kulturelle und lokale Besonderheiten von Reenactments?
Marszałek: Es gibt sicherlich spezifische lokale Gründe für die Reenactment-Welle. In Polen zum Beispiel ist das populäre Reenactment inzwischen zu einem Volksspiel geworden und die verkleideten Reenactors gehören zum Alltag, weil es immer etwas zu 'wiederholen' gibt. Meiner Meinung nach hat die enorme Konjunktur von populären Reenactments in Polen, die sich keineswegs auf mittelalterliche Schlachten begrenzen, sondern vor allem Ereignisse des Zweiten Weltkriegs nachstellen, viel mit den intensiven und zum Teil sehr dramatischen Debatten um die polnische Geschichte im 20. Jahrhundert zu tun, die - von der politischen Wende von 1989 ausgelöst - vor allem nach 2000 ausgebrochen sind. Es sind mehrheitlich gedächtnispolitisch durchaus konforme Nachstellungen, wie das Reenactment des polnisch-nationalen Warschauer Aufstands von 1944, der Städte-Bombardierungen oder des Massakers in Katyń. Es gibt aber auch Reenactments, die als kritische Interventionen gemeint sind. Das erwähnte Projekt "Verbrennen einer Scheune" des polnischen Performers Rafał Betlejewski ist ein gutes Beispiel dafür. Dieses Projekt zeigt aber auch, dass die Grenze zwischen einem populären Event und einer künstlerischen Intervention im Reenactment fragil bleiben kann. Betlejewski wollte an das Massaker in Jedwabne 1941 erinnern, das heißt an die polnische Mittäterschaft am Holocaust. Die Aktion war äußerst spektakulär: Betlejewski zündete die mit Benzin begossene Scheune von innen an und rettete sich quasi durch Flucht in letzter Minute aus der bereits brennenden Scheune. Interessanterweise 'verbrannte' Betlejewski dabei in der Scheune auch den polnischen Antisemitismus, indem er die vorher von den freiwilligen Projektteilnehmern gesammelten Kärtchen mit Schuldbekenntnissen in der Scheune anzündete. So ist die Performance auch zu einem 'therapeutischen' Reinigungsritual geworden.
Schwarz: Im anglophonen Raum haben Reenactments eine längere Geschichte - sowohl die Tradition der Inszenierung von Geschichte von offizieller Seite in den erwähnten Pageants, als auch die populärkulturellen Formen, die ihren Anfang in Gruppen von Hobby-Darstellern genommen haben, die Schlachten des amerikanischen Bürgerkriegs nachstellen. Während es bei diesen Veranstaltungen um eine nostalgische Wiederauferstehung der vermeintlich ritterlicheren Vergangenheit des verlorenen US-Amerikanischen Südens geht, so hat sich bei anderen Beispielen gezeigt, dass Reenactments ein politisches Mittel sein können, um Gegenerinnerungen eine Öffentlichkeit zu verschaffen. Zu den bekanntesten Reenactments dieser Art gehört The Battle of Orgreave von 2001, eine Nachstellung der Konfrontation von Bergleuten und der Polizei bei den Streiks in Großbritannien in den frühen 1980ern des britischen Künstlers Jeremy Deller. Er schreibt seiner Wiederaufführung der historischen Auseinandersetzung eine therapeutische Funktion zu. Endlich, so seine Überzeugung, würde die Sicht der unterlegenen Bergarbeiter auf die Ereignisse sichtbar gemacht und ein Prozess der Aufarbeitung in Gang gesetzt, der zu einer Heilung historischer Verletzungen beitragen kann. Manchmal, so scheint es, beziehen sich Reenactments also geradezu explizit auf ein popularisiertes Wissen um Freuds Konzept von "Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten".
Künstlerische Reenactments dienen also weniger der "authentischen" Wiederholung eines historischen Ereignisses, als eher der Offenlegung von gegenwärtigen Potentialen im Umgang mit der Vergangenheit?
Marszałek: Künstlerische Reenactments folgen im Grunde selten dem letzten Endes naiv-mimetischen Format der populären Nachstellungen, auch wenn es solche künstlerischen Reenactments durchaus auch gibt: Neben Dellers Battle of Orgreave gehört dazu auch Milo Raus Die letzten Tage der Ceausescus (2009), ein theatralisches Reenactment des Eilprozesses vor der Hinrichtung des Diktatorenehepaars 1989 in Bukarest. Für den polnischen Künstler Artur Żmijewski wiederum sind Reenactments vor allem soziale Experimente mit einem offenen Ausgang. So hat er z.B. 2005 in Warschau das berühmte Gefängnis-Experiment Philip Zimbardos von 1971 nachgestellt - mit einem ziemlich überraschenden Ende. Was aber die Performance von Betlejewski betrifft, so kann man dabei eher von einer symbolischen Wiederholungsgeste sprechen, die er mit dem Verbrennen der Scheune vollzogen hat, und die an ein Verbrechen erinnert.
Schwarz: Auch wenn die Unterscheidung in populäre und künstlerische Reenactments verlockend ist, haben wir jedoch in unseren Lehrveranstaltungen immer wieder festgestellt, dass sich eine solche Unterscheidung beispielsweise auf Grundlage von ästhetischen oder formalen Kategorien nur schwer treffen lässt. So hat der britische Künstler Rod Dickinson für sein Milgram Reenactment in einer Galerie jene Laborräume so exakt wie möglich nachbauen lassen, in denen der Psychologe Stanley Milgram in den frühen 1960er- Jahren Experimente für seine umstrittene Obedience to Authority-Studie durchgeführt hatte. Milgram hatte nachweisen wollen, bis zu welcher Grenze Menschen bereit sind, den Anweisungen einer Autorität zu folgen und dabei in Kauf nehmen, andere möglicherweise tödlich zu verletzen. In diesen rekonstruierten Räumen ließ Dickinson nun Schauspieler Milgrams Originalexperiment über mehrere Stunden hinweg bis ins kleinste Detail wiederholen. Es ging also sehr wohl um die 'authentische' Wiederholung eines historischen Ereignisses - und doch war das, was die Zuschauer dort sahen, etwas ganz Anderes. Bei der Re-Inszenierung des Experiments im Rahmen des Ausstellungsraumes standen - trotz des vermeintlich exakt wiederholten Ereignisses - Fragen nach Wissenschaftsethik und der unbeabsichtigten Fortschreibung von historischen Gewaltstrukturen in der Gegenwart im Vordergrund.
Hat die politische Wende von 1989 auch in anderen mittel- und osteuropäischen Ländern oder im anglophonen Raum zu einer Reenactment-Welle geführt?
Marszałek: Soweit ich weiß, werden dramatische Ereignisse aus der Zeit des Realsozialismus nicht nur in Polen, sondern zum Beispiel auch in Ungarn nachgestellt. Das populäre Reenactment als eine Art Volksspiel ist aber dezidiert ein polnisches Spezifikum, das sich nicht so einfach erklären lässt.
Schwarz: Im anglophonen Raum lässt sich die Tatsache beobachten, dass veränderte politische Rahmenbedingungen die Reenactments jeweils anders aussehen lassen. Cooks 'Entdeckung' Australiens, oder aber die Ankunft der ersten Europäer an Bord der First Fleet wurden in Australien bis in die Mitte des 20. Jahrhundert nachgestellt und gefeiert, ohne dass der koloniale Kontext der Reisen von der Mehrheitsgesellschaft thematisiert oder problematisiert wurde. 1970 jedoch, 200 Jahre nach Cooks Ankunft, gab es dann zum ersten Mal signifikante Proteste gegen die Wiederaufführung; und 1988, zum 200. Jubiläum der europäischen Besiedlung des Kontinents, wurde die Re-Inszenierung der Ankunft der First Fleet zu einem der zentralen Protestorte. Wichtig erscheint mir hier die Beobachtung, dass diese Proteste häufig die Form von Gegen-Reenactments annehmen: Sie greifen das Setting, die historischen Figuren und das überlieferte Vokabular auf und geben diesem durch kleine Veränderungen eine ganz andere Bedeutung.
Ist es nicht geradezu ein Paradoxon, dass ausgerechnet durch jene Aufführungspraktiken, die sonst für die Einmaligkeit des Ereignisses stehen, Wiederholungen erzeugt werden?
Schwarz: Ja, ein interessantes Paradoxon, zumal wenn man bedenkt, dass das Reenactment inzwischen auch immer mehr in der Performancekunstszene angekommen ist. Das bekannteste Beispiel hierfür dürften jüngere Arbeiten von Marina Abramovič sein, die in den vergangenen Jahren wichtige Performances ihrer Karriere im Guggenheim Museum in New York wieder aufgeführt hat. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich für den modernen Tanz beobachten, wo Künstler vermehrt Aufführungen aus der Zeit der Jahrhundertwende rekonstruieren. Wie bei Abramovič scheint es hier nicht zuletzt darum zu gehen, so etwas wie das Archiv der Performancegeschichte zu sichten und Formen der Geschichtsschreibung für Kunstformen zu finden, die von ihrer Natur her auf Einmaligkeit abheben.
Text: Nina Weller, Online gestellt: Julia Schwaibold