Preisträgerin 2018: Gladys Tzul Tzul
Die guatemaltekische Soziologin Dr. Gladys Tzul Tzul erhält 2018 den »Voltaire-Preis für Toleranz, Völkerverständigung und Respekt vor Differenz« der Universität Potsdam für ihren Einsatz für die indigene Bevölkerung in Mittelamerika. Gladys Tzul Tzul hat sich auf indigene Regierungssysteme, ihre Machtverhältnisse und den Kampf zwischen lokalen und staatlichen Behörden in Guatemala spezialisiert. Ihren Doktortitel in Soziologie hat sie an der Benemérita Universidad de Puebla (BUAP) in Mexiko erworben. Tzul Tzul ist die Gründerin von Amaq, einem Institut, das indigenen Völkern Rechtsberatung anbietet.
Frau Tzul Tzul, Sie haben öffentlich den Genozid unter der Präsidentschaft des jüngst verstorbenen Efraín Ríos Montt in Guatemala in den Jahren 1982 bis 1983 angeprangert und engagieren sich seit Jahren für die indigenen Gemeinschaften, den sogenannten „comunidades“, in Guatemala. Welche Probleme sehen Sie bezüglich der politischen und sozialen Situation indigener Völker in Ihrem Heimatland?
Guatemala ist ein Land, in dem die indigenen Gemeinschaften es geschafft haben, ihre eigenen Regierungssysteme zu erhalten. Trotz der Repression und des Völkermordes in den 1980er Jahren arbeiten Frauen, Männer und Kinder weiterhin daran, ihre Wasserquellen und ihre Gemeinschaftsgebiete zu bewahren. Historisch betrachtet, haben die comunidades zu ihrer eigenen Lebenserhaltung beigetragen. Zeitgleich haben sie aber auch den Demokratisierungsprozess in der guatemaltekischen Gesellschaft der Nachkriegszeit unterstützt.
Das Problem ist nun der andauernde Antagonismus zwischen der indigenen Bevölkerung und dem guatemaltekischen Staat. Der Staat leugnet die indigenen comunidades und erkennt die Existenz der Gemeinschaftsgebiete mit ihren eigenen Regierungssystemen nicht an. Zwanzig Jahre nach Unterzeichnung des Friedenvertrags hat sich die Mehrheit der comunidades wieder aufgerafft und nach ihren Toten gesucht. Während dieser Suche begegneten die Betroffenen auch Ingenieuren von Wasserkraftkonzernen, die wiederum nach Orten suchten, wo sie neue Kraftwerke bauen konnten. Das heißt: Dort, wo die indigenen Gemeinschaften Leben schaffen, versuchen Staat und Geld den Tod zu erzwingen. Dieser Konflikt in Guatemala ist noch immer nicht gelöst, Plünderungen und Enteignungen sind von der Regierung noch immer gewollt.
In welcher Weise haben Sie sich in den letzten Jahren für die Rechte der indigenen Bevölkerung in Ihrer Heimat eingesetzt?
Die indigenen Gemeinschaften haben historisch für ihre Rechte gekämpft und ich habe versucht, mich ihrem Kampf anzuschließen. Entsprechend habe ich an verschiedenen juristischen Verfahren zur Verteidigung der indigenen Regierungssysteme teilgenommen. Ich war bei Gerichten und habe die Funktionsweise des Gemeinschaftsrechts im Hinblick auf den Naturschutz und die Formen der sozialen Autoregulierung erläutert.
In den gegenwärtigen Zeiten der Kapitalakkumulation erleben wir die Neuzusammensetzung der republikanischen juristischen Apparate. Damit gilt heute als ein Verbrechen, was früher keines war. So werden Hunderte von indigenen Gemeinschaftsvertretern strafrechtlich verfolgt. Mehrere Anwälte, die die indigenen Autoritäten vor Gericht verteidigen, haben mich gebeten, mich als Expertin in diesen Prozessen einzubringen. Dort stand ich vor herausfordernden Forschungsthemen und Kritik, sowohl bei den indigenen Regierungssystemen als auch beim staatlichen Rechtssystem.
Ebenso habe ich an mehreren gemeinschaftlichen Feierlichkeiten teilgenommen, weil die comunidades sich auch Zeit für das Schöne nehmen. Diese Feste sind eine Erinnerung daran, dass vor nicht allzu langer Zeit auch so gefeiert wurde.
Was treibt Sie persönlich an?
Ich habe an der Universität viele Jahre damit verbracht, über indigene Rebellionen und Kämpfe sowie über Politik in Lateinamerika zu lesen. Dank meiner Stipendien konnte ich in den Archiven zu den Auseinandersetzungen von Gemeinschaftsmitgliedern und Gemeinschaftsrat forschen, wenn über die Abschaffung von Tributzahlungen oder die Befreiung ihrer Anführer diskutiert wurde. Gleichzeitig bin ich auch in diesem Kontext aufgewachsen, habe Demonstrationen für den Wasserschutz oder Versammlungen erlebt, bei denen der Schutz der gemeinschaftlichen Landesgrenzen beschlossen wurde. Sowohl meine wissenschaftliche Arbeit als auch meine persönliche Erfahrung haben meinen Horizont erweitert.
Und ich werde nie das gemeinschaftliche Massenbegräbnis vom 5. Oktober 2012 vergessen, als die comunidades die Gewalt des guatemaltekischen Staates zurückwiesen. Ja, das war wie ein Buch über Tote, in dem die Gefallenen des Krieges in den Stimmen der Anwesenden erschienen. Dieses Bild treibt mich an, es verletzt und treibt mich an.
Außerdem erlebte ich bei der Diskussion um die Verfassungsreform, wie die indigenen Vertreter mit dem Staat auf eine persönliche Art und „per Du“ gesprochen haben. Die würdevolle Weise, mit der die indigenen Autoritäten die comunidades verteidigten, die sie gewählt hatten, war fast identisch mit den Auseinandersetzungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Aus wissenschaftlicher Sicht hat mich das beeindruckt. Ich habe den indigenen Bürgermeister von Sololá zu den Parlamentariern sagen hören: „Wir möchten keine Anerkennung, wir sind bereits von unseren Versammlungen gewählt worden. Was wir wollen, ist, dass ihr unser Handeln in unserem eigenen Regierungssystem nicht als Verbrechen einstuft.“
All das ist es, was mich motiviert, den gemeinschaftlichen indigenen Widerstand unterstützen, der dem Genozid zum Trotz seit fünf Jahrhunderten fortbesteht. Auch weil es genau diese Form der Gemeinschaft ist, die vielen von uns die materielle Grundlage gegeben hat, um uns weiterzubilden und zu professionalisieren.
Sie sind in Ihrem Land von Verfolgung bedroht. Wie kam es dazu und welche Folgen hat Ihr Engagement für Sie persönlich?
Diese Situation entstand nach dem Massaker vom 4. Oktober 2012, als wir darum kämpften, den Opfern gedenken zu dürfen. Wir wurden bedroht und ich hatte lange Angst, wieder öffentlich zu sprechen. Solche Drohungen zwingen uns zum Schweigen, wir können unser Leben nicht wie bisher weiterführen. Man wird misstrauischer, aber wir müssen weiterhin an das Leben und an den Kampf glauben.
Welche Zukunft wünschen Sie sich für die Menschen in Ihrer Heimat?
Die comunidades haben Lebensprojekte. In der Region Nebaj bauen Menschen ihre Grundstücke mit mehr als zwölf Kulturen wiederauf. Die Gemeinschaften pflanzen nach wie vor organischen Mais, der mehrere Generationen ernähren wird. Es gibt comunidades mit einem Lebensuniversum, das hoffentlich nicht zerstört wird, und zwar nicht nur zum Wohle der Gemeinschaften, sondern auch für die Welt. Ich wünsche mir, dass meine Forschung ein wenig zum Erhalt dieser gemeinschaftlichen Welt beitragen kann.
Wir danken für das Gespräch!
HINTERGRUNDINFORMATIONEN
Zur Situation der indigenen Bevölkerung in Südamerika
In jedem Land Lateinamerikas stellt sich die Situation der indigenen Bevölkerung heute verschieden dar. Während sich in Bolivien neue Möglichkeiten der politischen, sozialen und kulturellen Teilhabe eröffnet haben, ist die Situation in vielen Ländern Mittelamerikas für die indigene Bevölkerung prekär. Die jahrhundertelange Entrechtung der indigenen Völker auf dem gesamten amerikanischen Kontinent hat in den vergangenen Jahrzehnten zu neuen Formen grenzüberschreitender Zusammenarbeit geführt, wie der kommunalen Selbstverwaltung. Auf diese Weise treten die Menschen der Verelendung und den unterschiedlichsten Formen der Diskriminierung entgegen. Auch in Guatemala gibt es eine indigene Beteiligung auf kommunaler Ebene, und zwar in den sogenannten „comunidades“. Viele dieser Gemeinschaften wählen sich Vertreter, die unabhängig vom staatlichen Rechtssystem als ihre eigenen Bürgermeister fungieren. Auf staatlicher Ebene ist der indigenen Bevölkerung die politische Teilhabe jedoch zumeist verwehrt. So sind zwar die Jahrzehnte des Genozids vorüber, doch hält die Diskriminierung weiter Teile der indigenen Bevölkerung trotz des großen Einsatzes von Wissenschaftlerinnen wie Gladys Tzul Tzul oder von Schriftstellern wie Rodrigo Rey Rosa an.
Bürgerkrieg in Guatemala
150.000 bis 250.000 Menschen fielen dem guatemaltekischen Bürgerkrieg von 1960 bis 1996 zum Opfer. Die meisten von ihnen gehörten der indigenen Bevölkerung an, vor allem den verschiedenen ethnischen Gruppen der Maya. Sie wurden bei planmäßigen Massakern der Armee und rechter paramilitärischer Truppen ermordet.
Massaker im Oktober 2012
Am 4. Oktober 2012 protestierten Menschen aus zahlreichen Gemeinschaften der Quiché, einer Bevölkerungsgruppe der Maya, im guatemaltekischen Verwaltungsbezirk Totonicapán gegen eine geplante Verfassungsänderung. Der damalige Innenminister Mauricio López Bonilla befahl die Auflösung des friedlichen Protests. Als Soldaten die Straßenblockade von ungefähr 6.000 Menschen mit Schüssen beendeten, starben acht Personen und mehr als 40 wurden verletzt.