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Debatte zur Zukunft des Fremdsprachenunterrichts

Eine Diskussion zwischen dem Präsidenten der Universität Potsdam und Kolleg*innen der Philosophischen Fakultät


Interview des Präsidenten mit Deutschlandfunk Kultur (29.11.2024)

Der Präsident der Universität Potsdam Prof. Oliver Günther war zu Gast in einem Interview mit dem Radiosender Deutschlandfunk Kultur. In dem Talk-Format Studio 9 – Der Tag mit ... wurde er auf verschiedene aktuelle Themen angesprochen, zu welchen er jeweils in ein paar Sätzen Stellung bezog.

In diesem Rahmen wird Herrn Günther ab Minute 12:55 das Statement des Baden-Württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann vorgetragen, die zweite Fremdsprache als Schulfach doch einfach abzuschaffen und stattdessen ein Schulfach Digitale Medienkompetenz einzuführen. Diesen Vorschlag hatte der Grünen-Politiker erstmals im Juni 2023 und erneut im November 2024 in die öffentliche Diskussion eingebracht. Beide Male kam sowohl von der politischen Opposition auch von Seiten der Fachverbände (etwa dem Deutschen Philologenverband, 2023 wie 2024) teils harsche Kritik. Prof. Günther bezeichnete Kretschmanns Vorschlag jedoch als sehr interessanten Impuls: Es sei nötig, alte Lehrplan-Inhalte zugunsten in jüngerer Vergangenheit relevant gewordener Themen zu streichen. Zudem sei der Fokus auf Fremdsprachenvermittlung, wie er heute existiert, auf absehbare Zeit nicht mehr vonnöten. Zitat:

Wir haben alle gesehen, wie über generative KI die Übersetzungsprogramme in den letzten Monaten wirklich immer wieder besser wurden. Und meine Prognose ist, dass wir in zehn Jahren alle in unserem Brillengestell und im Ohr einen Knopf haben, der simultan übersetzt, sodass sie dann Chinesisch sprechen können und ich Französisch und wir verstehen uns. Dann brauche ich keine Fremdsprachen mehr, dann brauche ich auch kein Englisch mehr. Und dieses Szenario ist nicht so unrealistisch wie das auf den ersten Blick klingt.

Auf den Widerspruch der Moderatorin hin räumt er ein, wie wichtig es sei, in der Schule eine andere Kultur und kulturelles Verständnis zu lernen; daher spreche er auch nicht  über die völlige Abschaffung, wohl aber von einer grundlegenden Veränderung und damit verbunden von einem massiven Abbau des Fremdsprachenunterrichts.


Offener Brief der Sprachwissenschaften und Femdsprachendidaktiken der Philosophischen Fakultät (19.01.2025)

Federführend aufgesetzt von Prof. Kathleen Plötner

Sehr geehrter Herr Präsident,

als Dozierende und Lehrkräfte fremdsprachlicher Fächer, als wissenschaftliche Kolleginnen und Kollegen sowie als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Universität Potsdam haben wir in den vergangenen Monaten mit Interesse Ihre öffentlichen Äußerungen zum schulischen Fremdsprachenlernen verfolgt. Wir begrüßen ausdrücklich, dass Ihnen die Lehrkräftebildung am Herzen liegt und Sie sich mit Medienbildung und dem Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) auseinandersetzen.

Medienkompetenzen sind zweifellos für alle schulischen Fächer von zentraler Bedeutung und integraler Bestandteil sowohl fachspezifischer als auch
fachübergreifender Bildungspläne. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zur Lehrkräftebildung besteht Konsens darüber, dass Medienkompetenzen stets im Zusammenhang mit fachlichen Inhalten und spezifischen Bedarfen vermittelt werden sollten. Umso bedauerlicher empfinden wir es, dass der Diskurs zur Medienbildung und zum Einsatz von KI in Ihren Beiträgen eine inhaltliche Verkürzung erfährt und weitgehend auf die sprachlichen Fächer beschränkt bleibt.

Die in Ihren Äußerungen formulierte, stark übersetzungsorientierte Sichtweise auf Spracherwerb und Sprachunterricht vermittelt ein Bild, das den modernen Ansätzen und Theorien des 21. Jahrhunderts in erheblichem Maße widerspricht. Sprachunterricht ist weitaus mehr als das Übersetzen von Texten oder idiomatischen Wendungen und auch Letzteres erfordert weitreichendes kultur- und sprachspezifisches Wissen und lässt sich nicht auf die Zuordnung von Äquivalenzen beschränken. KI kann beim (Fremd-)Spracherwerb helfen (und tut es ja bereits auch schon); der Glaube allerdings, dass KI das Sprachenlernen ersetzen könne, zeugt von einem mechanistischen Sprachverständnis, das die Breite der sprachlichen Funktionen in der zwischenmenschlichen Kommunikation negiert und Sprache auf einen entindividualisierten Satz von Zeichen reduziert, die Menschen untereinander austauschen wie Spielkarten.

Sprachliche Fächer leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur literar-ästhetischen und plurilingualen Bildung. Sie fördern die Auseinandersetzung mit Filmen, Literatur, Musik sowie aktuellen gesellschaftspolitischen Fragestellungen und tragen maßgeblich zur Identitätsbildung, Werteentwicklung und einem reflektierten Umgang mit der Vielschichtigkeit von Sprache und Kultur bei. Kommunikation – in welcher Sprache auch immer – ist untrennbar von Identität, gesellschaftlichem Austausch und Vielfalt. Der Erwerb metasprachlichen Wissens entwickelt den reflektierten Umgang mit der eigenen Sprachbiographie.

Sprache ist nicht nur Medium des persönlichen Ausdrucks und Mittel zur Entfaltung der Individualität, sondern auch ein zentraler Ort, an dem Macht, Mündigkeit und kulturelle Offenheit verhandelt werden. Über ihre verschiedenen Formen und Darstellungsmöglichkeiten – analog wie digital – trägt sie dazu bei, Dialog und Verständnis über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg zu fördern.

Wir bitten Sie daher eindringlich, Ihre Position zu überdenken, wonach fremdsprachliche Fächer durch KI ersetzt werden könnten bzw. überflüssig würden. Wie das Diskussionspapier Künstliche Intelligenz der Leopoldina (2024) hervorhebt, sind die Befähigung zu Verantwortungsübernahme und Kontrolle auf der Basis fachlichen, hier sprachlichen und kulturellen Wissens unverzichtbar im Umgang mit Anwendungen generativer KI.
Fremdsprachliche Bildung, interkulturelle Kompetenz und Sprachreflektion sind zentrale Pfeiler eines ganzheitlichen Bildungsverständnisses in einer kulturell diversen, mehrsprachigen Gesellschaft. Sie können durch keine KI ersetzt werden, sondern sind vielmehr unverzichtbare Bestandteile beim funktionalen, reflektierten und kritischen Einsatz dieser Technologie(n).

Mit freundlichen Grüßen

die Kolleginnen und Kollegen der Romanistik, der Slavistik, der Anglistik,
des Zentrums für Sprachen und Schlüsselkompetenzen (Zessko) &
des Zentrums für Sprache, Variation und Mehrsprachigkeit (SVM)

 

Der Brief kann auf der Website der Romanistik auch als PDF heruntergeladen werden.

Quellen:

Bildungsserver Berlin-Brandenburg: Moderne Fremdsprachen

Bildungsserver Berlin-Brandenburg: Fachübergreifende Kompetenzentwicklung

Simon, J., Spiecker Döhmann, I., & von Luxburg, U. (2024). Generative KI – jenseits von Euphorie
und einfachen Lösungen (Diskussion 34). Halle an der Saale: Nationale Akademie der Wissenschaften
Leopoldina. 10.26164/leopoldina_03_01226

 


Antwort des Präsidenten auf den offenen Brief (22.01.2025)

Die Antwort von Herrn Günther erfolgte via E-Mail und wird nun mit freundlicher Genehmigung (nach minimaler redaktioneller Kürzung) veröffentlicht.

Liebe Frau Plötner, liebe Kolleginnen und Kollegen,

[...]

Zunächst freut es mich natürlich, dass meine kurzen Ausführungen – es waren etwa 3 1/2 Minuten Redezeit – ein solches Echo auslösten. Offensichtlich haben meine Bemerkungen einen Nerv getroffen, das kam ja auch in der Reaktion der Moderatorin schon zum Ausdruck.

Lassen Sie mich versuchen, erst einmal die unstrittigen Punkte zu formulieren. Die rasenden Fortschritte der KI sind uns allen bekannt. Es kann kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, dass die Stimme-zu-Stimme-Übersetzung in Echtzeit und in sehr hoher Qualität in vielleicht 10 Jahren flächendeckend und kostengünstig im Sinne einer „Commodity“ zur Verfügung stehen wird. Das ist der von Ministerpräsident Kretschmann und auch von mir beschriebene „Knopf im Ohr“ (oder im Brillengestell). Dies wird – auch daran kann m.E. kein Zweifel bestehen, aber das mögen manche von Ihnen anders sehen – dazu führen, dass fast alle Gespräche zwischen Personen mit unterschiedlichen Muttersprachen nicht mehr – wie bisher – in einer nur von einem oder keinem der Gesprächspartner muttersprachlich beherrschten Plattformsprache (hier denke man insbesondere an das Englische) geführt wird, sondern indem jede(r) seine/ihre Muttersprache spricht und die KI die Äußerungen in die Zielsprache – also im Regelfall die Muttersprache des Gesprächspartners – übersetzen wird.

Unter Maßgabe dieses Szenarios sinkt die Motivation für das Erlernen einer fremden Sprache signifikant. Dies wird m.E. auch dazu führen, dass das Englische seine Funktion als Universalsprache langfristig einbüßen wird. Als Kommunikationswerkzeug wird die Fremdsprache ja nicht mehr gebraucht, es sei denn, man möchte durch die Verwendung der Fremdsprache seinen Respekt bzw. seine Verbundenheit mit dem Sprach- und Kulturkreis des Gesprächspartners zum Ausdruck bringen.

Ebenso wird dies dazu führen, dass sich der Arbeitsmarkt stark internationalisieren wird. Man kann am Arbeitsplatz ja einfach seine eigene Sprache sprechen, was zum Beispiel heißt, dass unsere Absolventen nicht unbedingt Deutsch sprechen müssen, um eine Stelle zu finden. Umso wichtiger ist freilich die von Ihnen (und übrigens auch von mir in dem DLF-Interview) angesprochene Frage der kulturellen Kompetenz.

Vor diesem Hintergrund sollte man über die Zukunft des Fremdsprachenunterrichts an unseren Schulen zumindest diskutieren. Denn das Ziel des Sprachunterrichts ist ja dann ein anderes. Es geht eben weniger denn je um das in Ihrem Schreiben angesprochene „mechanistische Sprachverständnis“, das Sie mir anscheinend unterstellen. Vielmehr geht es – ganz genau wie Sie schreiben – eben um das Erlernen einer anderen Kultur mit anderen Begrifflichkeiten, Empfindlichkeiten und Wertesystemen. Dieses Erlernen zumindest EINES anderen Kultur- und Sprachraumes gehört auch nach meinem Verständnis zum absolut notwendigen Bildungskanon eines jeden Menschen. Dies erfordert aber eben nicht unbedingt den Fremdsprachenunterricht, wie er heute an Schulen weltweit gepflegt wird. Passender wäre hier vielleicht ein Unterricht, der eben gerade auf die kulturellen Aspekte des „fremden“  Raumes abhebt. So wie z.B. der Lateinunterricht seit vielen Jahren praktiziert wird: Auch da geht es ja nicht um Echtzeitkommunikation, sondern es geht um ein Verständnis der lateinischen Grammatik und der Kultur der „alten Römer“. Nun würde ich nicht so weit gehen wollen, die komplette Substitution des Unterrichts in Englisch, Französisch, Spanisch usw. durch ein großes Latinum zu fordern. Aber ein „weiter so“ kann doch auch nicht die Antwort auf die beschriebenen Herausforderungen sein.

Lassen Sie mich abschließend etwas zu meinem persönlichen Hintergrund sagen. Ich bin – im Gegensatz zu meinen beiden Töchtern – einsprachig aufgewachsen. In der Schule habe ich das große Latinum erworben, ganz passabel Englisch gelernt und in einer Französisch-AG Grundzüge dieser Sprache erworben. Später hatte ich das Glück, in drei fremde Kulturkreise vertieft eintauchen zu dürfen. Ich habe in den USA studiert und insgesamt über sechs Jahre dort gelebt, ich war über 20 Jahre in einer Lebensgemeinschaft mit einer Französin, die auch die Mutter meiner beiden Töchter ist, und ich bin – wie Sie wissen – nun mit einer Inderin verheiratet.

Sie können mir glauben, dass ich die erlebten interkulturellen Erfahrungen ganz außerordentlich zu schätzen weiß. Aber dafür braucht es nicht den schulischen Fremdsprachenunterricht in der bisherigen Prägung. Was man stattdessen anbietet, ist eine andere Frage. Aber Sie wissen, dass um jede Stunde im Lehrplan hart gerungen wird. In dieses Ringen sollten nun eben auch die bisher sakrosankten Stunden, die für die erste und ggf. zweite Fremdsprache aufgewendet werden, einbezogen werden. Um nicht mehr und nicht weniger geht es mir. Auf den konstruktiven Dialog hierzu freue ich mich und stehe für eine Podiumsdiskussion o.ä. jederzeit gerne zur Verfügung.

Beste Grüße

Oliver Günther