Elsbeth Thürig-Hofstetter:
Singen im Chor. Analytische Beschreibung des Lern- und Übungsprozesses beim Erwerb eines neuen mehrstimmigen Liedes
Abstract
Abstract:
Das gemeinsame Singen fasziniert und begeistert uns Menschen. In allen Völkern, Kulturen und Religionen ist diese soziokulturelle Praxis ein wichtiger Bestandteil musikalischen Handelns. Seit der Entwicklung der abendländischen Mehrstimmigkeit im frühen Mittelalter gibt es die Tradition, dass Menschen zusammenkommen, um mit ihren Stimmen im Kollektiv mehrstimmige Lieder zu singen und einen homogenen Klangkörper zu bilden. Sängerinnen und Sänger erwerben in einem geleiteten Gruppenprozess ein neues mehrstimmiges Lied und stimmen musikalische Elemente in Bezug auf Intonation, Rhythmus und Artikulation synchron aufeinander ab, sodass Vokalmusik in wohlklingender Form entstehen kann.
Bisherige Forschungen konzentrierten sich vorwiegend auf soziale Funktionen (Bailey & Davidson 2005), Gesundheit und Wohlbefinden (u.a. Kreutz 2015; Clift et al. 2010) sowie die Handlungen und Instruktionen der musikalischen Leitung (Durrant 2005, 2000; Jansson 2019). Schwedische und isländische Studien (Zadig et al. 2017, 2016; Einarsdottir 2016, 2014) identifizierten im Chor ‘leaders and followers’ und untersuchten, wie Chorsingende in Proben das Prinzip des Peer-Learnings nutzen. Cooper (2018) beobachtete in australischen Amateurchören Vermittlungsstrategien, die Chorleiter*innen in den Proben anwenden: Nebst der ‘mündlichen Vermittlung’ (aural transmission) sind ‘visuelle und körperliche Vermittlung’ (visual and physical transmissions) wichtige Techniken des Lehrens uns Vermittelns.
Ziel meiner Forschung ist es, die Lernpraktiken einzelner Sängerinnen und Sänger zu analysieren. Videoaufzeichnungen ermöglichen die Rekonstruktion der verschiedenen Aktionen im zeitlichen Verlauf. Mit einer speziellen Software (Melodyne) werden die einzelnen vokalen Handlungen der Sänger*innen vertiefend analysiert. Darüber hinaus beschreiben die Teilnehmenden (n = 23) in einem Leitfaden- und Video-Stimulated Recall Interview ihre Erfahrungen während des Lernprozesses.
Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass a) Beobachtung und Nachahmung sowie ein paralleler Abgleich mit den Musiknoten, b) die stimmliche Einbindung in einen harmonischen Kontext sowie c) ein «Versuch-und-Irrtum-Lernen» (learning by doing) (vgl. Platz & Lehmann 2018) häufige Lernpraktiken sind. Insbesondere das vorgesungene Modell dient den Lernenden als klangliche Vorstellung. Die Unterteilung in sinnvolle Einheiten (chunking) und das Prinzip der Wiederholung erachten die Mitwirkenden für ihr Lernen im Chor als besonders wirksam. Amateursänger*innen verwenden Musiknoten vorwiegend als visuelle Orientierung und Gedächtnisstütze.
Über Elsbeth Thürig-Hofstetter
Elsbeth Thürig-Hofstetter
Dozentin & Chorleiterin
Pädagogische Hochschule Zürich (Schweiz)