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Ausstellungsprojekt in Krakau: "Handschriften zum Sprechen bringen. Gelehrten-Nachlässe in der Jagiellonen-Bibliothek"

Jagiellonen-Bibliothek in Krakau
Foto: Jagiellonen-Bibliothek in Krakau

Die vom 5.7. bis 29.7. 2022 in der Jagiellonen-Bibliothek präsentierte Ausstellung „Handschriften zum Sprechen bringen. Gelehrten- Nachlässe in der Jagiellonen-Bibliothek" ist Teil des Projekts „Die Zukunft des kulturellen Erbes im modernen Europa“, das im Rahmen des internationalen Programms Erasmus+ realisiert wird. Angeregt und geleitet von Prof. Dr. Iwan-Michelangelo D‘Aprile und seinem Mitarbeiter Kaspar Renner von der Universität Potsdam, hat dieses Projekt Universitäten aus acht europäischen Städten – Athen, Bologna, Bordeaux, Luxemburg, Kopenhagen, Krakau, Potsdam und Riga – sowie renommierte Bibliotheken aus diesen Standorten zusammengebracht: die Griechische Nationalbibliothek, die Universitätsbibliothek in Bologna, die Bibliothek von Bordeaux, die Jagiellonen Bibliothek, die Lettische Nationalbibliothek und die Staatsbibliothek zu Berlin. Das Gespräch über das europäische Kulturerbe ermöglicht es – wie die teilnehmenden Forscher·innen betonten – nicht nur, die Identität und Vielfalt Europas und die Besonderheit der Orte, an denen wir leben, zu reflektieren und verstehen, sondern lädt uns ein, über die Zerbrechlichkeit unseres gemeinsamen Kulturerbes und die Notwendigkeit, es zu schützen, nachzudenken.

Hauptziel des Projekts ist es, die teilnehmenden Personen mit europäischem Kulturerbe unter besonderer Berücksichtigung von literarischen Texten, Handschriften und Archivobjekten vertraut zu machen. Mit dem so definierten Profil will das Projekt zur Sensibilisierung der Teilnehmer·innen gegenüber der Bedeutung der europäischen Tradition beitragen, den Erwerb von einschlägigen Fachkenntnissen unterstützen stützen und den Sinn für eine gemeinsame europäische Identität stärken. Diese Aufgabe wird durch zweierlei Initiativen gefördert: Erstens durch innovative an Studierende und Doktoranden der genannten Standorte adressierte Unterrichtsformen, in deren Rahmen das materielle und immaterielle Kulturerbe Europas thematisiert wird. Hierzu trugen und tragen Gastvorlesungen, Tutorien und Sommerschulen in Athen, Bologna, Bordeaux, Kopenhagen und Krakau bei. Zweitens werden in Zusammenarbeit mit der jüngsten Forschendengeneration Ausstellungen für ein breiteres Publikum organisiert, mit dem Ziel, die Besucher·innen mit europäischer Dimension des lokalen Kulturerbes vertraut zu machen.

In diesen Kontext fügen sich auch gemeinsame Aktivitäten des Instituts für Germanistik der Jagiellonen-Universität und der Jagiellonen-Bibliothek ein. Die 20.7.-25.7.2021 abgehaltene Sommerschule „Das europäische Erbe der Stadt Krakau“ wurde von einer Ausstellung begleitet, die
den universitären und außeruniversitären Traditionen unserer Stadt gewidmet wurde. Um die Projektteilnehmer·innen mit den handschriftlichen Beständen der Jagiellonen-Bibliothek, ihrer Geschichte und Funktion vertraut zu machen, die die Funktion einer Hochschulbibliothek übersteigt,
zeigte die Ausstellung Handschriften in mehreren Sprachen. So wurden in chronologischer Reihenfolge Manuskripte aus den Nachlässen der Krakauer Professoren vom 14. Jh. bis 20. Jh. präsentiert. Mit diesen Objekten wurde die Bedeutung der Jagiellonen-Bibliothek für Krakau als ein wichtiges urbanes, ökonomisches und politisches Zentrum des polnischen Staates illustriert. Darüber hinaus konnten die Besucher·innen einen Einblick in Dokumente aus Adelsarchiven, literarische Texte und Kunstobjekte bekommen, die ihren Weg in die Jagiellonen-Bibliothek als Nationalbibliothek
gefunden haben. Die Ausstellung umfasste auch Handschriften aus der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin, die heute in der Jagiellonen-Bibliothek aufbewahrt werden. Dieser Teil der Ausstellung diente auch der Veranschaulichung von Vorträgen der Institutsangehörigen, die diese archivalischen Bestände im Rahmen von wissenschaftlichen Projekten erschließen.

Die aktuelle Ausstellung knüpft an die vorangegangene an: Sie präsentiert die handschriftlichen Nachlässe von vier Gelehrten aus vier unterschiedlichen Epochen. Die Nachlässe sind einerseits repräsentativ für die in derJagiellonen-Bibliothek aufbewahrten Handschriftensammlungen, andererseits liefern sie beredte Zeugnisse des Lebens und Wirkens bedeutender Forscher, deren wissenschaftliche Leistungen Grenzen einzelner wissenschaftlicher Disziplinen und den intellektuellen Horizont ihrer Zeit überschritten. Diese Gelehrten sind: Tomasz Strzępiński von Strzępin (1398- 1460), Jan Brożek (1585-1652), Alexander von Humboldt (1769-1859)
und Marian Smoluchowski (1872-1917).

Ausschlaggebend für die Auswahl der Exponate waren das internationale Renommee der Gelehrten und ihre Repräsentativität für verschiedene Epochen. Die Form der Dokumentation ihrer Leistungen orientiert sich an aktuellen Arbeiten zu Wissensgeschichte, die sich intensiv mit sozialen Bedingungen der Wissenschaft beschäftigen. Ein besonderer Platz fällt hierbei den Verfahren und Wegen der wissenschaftlichen Kommunikation zu. Die einschlägige Forschung wendet sich heute nämlich nicht nur den durch monologisches Sprechen gekennzeichneten wissenschaftlichen,
populärwissenschaftlichen und pädagogischen Arbeiten zu. In den Fokus der Forschung gerät zunehmend die Dokumentation der wissenschaftlichen Dialoge, die die Entstehung von akademischen Werken, Sammlungen und Bibliotheken begleiten. Die Aufmerksamkeit der Wissensgeschichte beanspruchen zunehmend auch die Zeugnisse, die soziale und politische Aktivitäten von Gelehrten, ferner ihre Sorge für wissenschaftliche Institutionen und die junge Forschergeneration dokumentieren. Nicht überraschend erscheint daher die Faszination an den Briefen der Wissenschaftler, die einerseits als Zeugnis der gelehrten Auseinandersetzung, und andererseits als intellektuelle Experimente: d.i. Versuche der Präsentation, Systematisierung, Verifizierung und Aktualisierung der Arbeitsergebnisse betrachtet werden.


Der Vertreter des Hochmittelalters, ein Jurist, Theologe und Sammler Tomasz Strzępiński, Jan Brożek, ein Mathematiker, Astronom und Arzt, der an der Wende von der Renaissance zum Barock lebte, Alexander von Humboldt, ein berühmter Universalgelehrte aus dem 19. Jh. und der das 20. Jh.
repräsentierende Physiker Marian Smoluchowski, vertreten verschiedene Epochen und wissenschaftliche Disziplinen, doch eine Zusammenstellung von Zeugnissen ihres Lebens und Wirkens lässt Gemeinsamkeiten zwischen den Forschern erkennen. Ihre Arbeiten zeichneten sich durch Interdisziplinarität aus. Charakteristisch für ihr Wirken war die Bereitschaft zur Zusammenarbeit im Rahmen von internationalen Gremien, Universitäten und Forschungsgesellschaften. Ihre Korrespondenz dokumentiert jeweilig ein umfangreiches Netz internationaler Kontakte, Offenheit für intellektuelle Innovationen und Anerkennung, die diese Gelehrten genossen. Es überrascht nicht, dass die Anerkennung über die universitären Grenzen hinausging. Keiner der Protagonisten der Ausstellung blieb auf sein Arbeitszimmer beschränkt. Strzępiński, Brożek, von Humboldt und Smoluchowski waren aktiv in akademischen, kirchlichen, sozialen und/ oder politischen Aktivitäten. Alle vier verbanden in ihrer Arbeit mutig verschiedene, manchmal divergierende intellektuelle Inspirationen.

Die Aktivitäten von Tomasz Strzępiński, dem Ältesten der hier präsentierten Gelehrten, entfalteten sich sowohl im universitären als auch dem außerakademischen Bereich. Strzępiński beschäftigte sich mit sozialen Fragestellungen innerhalb und außerhalb der Kirchenstrukturen (vgl. Synodalstatuten) und dies sowohl auf nationaler (als Bischof von Krakau) als auch auf internationaler Ebene (als Teilnehmer am Konzil von Basel). Ebenfalls interessante Einblicke in die Geschichte der Wissenschaft liefert die Biografie von Jan Brożek. Als anerkannter Mathematiker und Astronom leitete er den Lehrstuhl für Astrologie an der Universität Krakau. In diesem Zusammenhang hat er sich u.a. mit der Erstellung von Horoskopen beschäftigt, was zu seiner Zeit als eine Form wissenschaftlicher Arbeit angesehen wurde. Mit der Präsentation des von Brożek angefertigten Horoskops des polnischen Königs Zygmunt III, möchten wird daran erinnern, dass der Erkenntnisfortschritt kein linearer Prozess der Wissensakkumulation, sondern ein komplizierter von Diskontinuitäten geprägter Suchprozess ist. Manche Wege der Erkenntnis entpuppen sich als Sackgassen. Eine wichtige Rolle in dem so definierten wissenschaftlichen Fortschritt fällt vielfältigen Widersprüchen zu, wie es sich u.a. auch an
Belegen der akademischen Laufbahn von Jan Brożek zeigen lässt. Dieser Mathematiker und Autor von Horoskopen war ein überzeugter Anhänger der revolutionären Theorie von Nikolaus Kopernikus. Das Faksimile des Manuskripts von Kopernikus‘ De revolutionibus und das Titelblatt eines gedruckten Exemplars dieses Werks, das sich einst im Besitz von Brożek befand, erinnern uns an weitere wichtige Merkmale der Tätigkeit aller vier in der Ausstellung berücksichtigen Gelehrten: an ihre Sammelleidenschaft und ihr Nachlassbewusstsein. Sowohl Jan Brożek, der das Amt des Kustos der Bibliothek der Krakauer Universität innehatte, als auch Tomasz Strzępiński, sammelten wertvolle Bücher und historische Dokumente. Beide Gelehrte haben ihre Nachlässe der Heimatuniversität vermacht, die bis heute in der Jagiellonen-Bibliothek aufbewahrt werden. Dies erlaubt uns anhand der aus diesen Schenkungen für die Ausstellung ausgewählten Objekte, die Biografien der gelehrten Geber zu illustrieren.

Besondere Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit den Praktiken des Sammelns verdient der Teil der Ausstellung, der den wissenschaftlichen Leistungen von Alexander von Humboldt gewidmet ist. Zeugnisse seiner wissenschaftlichen Aktivitäten werden unter Heranziehung der Archivalien aus der Sammlung des deutschen Diplomaten, Schriftstellers und Publizisten Karl August Varnhagen von Ense gezeigt. Der mit dem Forschungsreisenden befreundete, in Berlin lebende Varnhagen legte eine überaus umfangreiche, berühmte Sammlung an. Der aus Manuskripten, Büchern, Zeitschriften, Grafiken, Notizen und historischen Objekten zusammengesetzte Bestand dokumentiert das Leben von über 9.000 Persönlichkeiten des literarischen, kulturellen und politischen Lebens, vor allem aus dem späten 18. und der ersten Hälfte des 19. Jh.s. Zur Erweiterung dieses Bestands hat Alexander von Humboldt beigetragen, indem er dem Freund einen Teil seiner Korrespondenzen schenkte. Den über 27 Jahre bestehenden Briefwechsel des Forschers mit dem Sammler illustrierenauf der Ausstellung ausgewählte Briefe. Sie dokumentieren sowohl diebenannten Schenkungen, als auch die einzelnen Entstehungsphasen von Humboldts Lebenswerk Kosmos.

Der Autor beriet sich mit dem literarisch versierten Publizisten sowohl über den Titel des Werks als auch über stilistische Fragen. Die Korrespondenz zwischen dem Gelehrten und dem Sammler verdient noch in anderer Hinsicht Beachtung. Dieser handschriftliche Bestand hat nämlich das Schicksal der Kollektion wesentlich beeinflusst: Aufgrund der Veröffentlichung der Briefe Alexander von Humboldts an Karl Varnhagen von Ense durch dessen Nichte und einzige Erbin Ludmila Assing hat die Sammlung Varnhagen Deutschland zum ersten Mal verlassen. Die Publikation der
in der Korrespondenz artikulierten politisch unorthodoxen Ansichten des Gelehrten löste in Preußen einen Skandal aus. Die mit einer Gefängnisstrafe bedrohte Herausgeberin begab sich nach Italien, wohin sie bald auch die gesamte Kollektion überführte. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts kehrte die Sammlung Varnhagen nach Berlin zurück. Als eine Schenkung der Königlichen Bibliothek zu Berlin vermacht, blieb sie bis 1941 in deren Mauern. Infolge der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs wurde es 1947 in die Jagiellonen-Bibliothek überführt. Hier wird ein Teil des eigentlichen Nachlasses von Alexander von Humboldt aufbewahrt, der in der Ausstellung durch den ersten Band von Kosmos repräsentiert wird.

Als letzten Teil der Ausstellung möchten wir den Besucher·innen einen Einblick in den Nachlass von Marian Smoluchowski, einem der bedeutendsten Physiker seiner Zeit, gewähren. Smoluchowskis Veröffentlichungen über die Brownsche Bewegung hatten neben Albert Einsteins Arbeiten zu diesem Thema eine Schlüsselbedeutung für die Erforschung der kinetischen Theorie der Materie. In einer Erinnerung an den polnischen Physiker, die im Rahmen dieser Ausstellung präsentiert wird, erinnert sich Einstein an Smoluchowski nicht nur als brillanten Wissenschaftler, sondern auch als edlen, feinsinnigen und freundlichen Menschen. Der Nachlass Smoluchowskis ging als Schenkung seiner Familie in die Sammlung der Bibliothek ein.

Die in der Ausstellung präsentierte Auswahl von Exponaten aus den handschriftlichen Nachlässen dokumentiert die Rolle der Jagiellonen-Bibliothek beim Sammeln und Vermitteln der Bestände des Erbes der europäischen Wissenschaft. Sie ermöglicht es den Besucher·innen auch, mit der in Form von Handschriften und Büchern materialisierten Tradition der Wissenschaft in Berührung zu kommen. Die Notizen der Gelehrten auf den Blättern der wissenschaftlicher Werke, ihre Korrespondenzen und Zitierpraktiken repräsentieren verschiedene Epochen und Formen wissenschaftlicher Tätigkeit. Alle laden sie zum Nachdenken über die Bedeutung des internationalen Dialogs als notwendige Voraussetzung des Wissensfortschritts ein.

Jagiellonen-Bibliothek in Krakau
Foto: Jagiellonen-Bibliothek in Krakau