Es klingt durchaus ungewöhnlich: Spielen für die Wissenschaft. Für die kleinen Probandinnen und Probanden, deren Verhalten Natalie Boll-Avetisyan analysiert, ist es aber genau das richtige Untersuchungsverfahren. „Meine Methode eignet sich für Babys ab neun Monaten. Ab diesem Alter können sie mit dem Spielzeug spielen“, erklärt die Wissenschaftlerin. „Man kann bei Kindern sehr früh testen, ob sie Schwierigkeiten mit der Sprache haben. Langzeitstudien aus der Sprachentwicklungsforschung zeigen, dass sich bei Störungen Vorläuferfähigkeiten schon im Babyalter nicht ausbilden.“
Das Spielobjekt hat die Professorin für Studien im BabyLAB der Universität Potsdam entwickelt und inzwischen patentieren lassen: Äußerlich nicht mehr als eine Holzkiste mit zwei grünen Druckknöpfen. Doch so einfach sie erscheint, so spannend ist das Innenleben der Box. Die darin steckende Elektronik sorgt dafür, dass auf Tastendruck Töne erklingen. Und sie misst, wie oft und wie lange das Kind auf welchen Knopf drückt, wenn es bestimmte Laute, Wörter und Betonungen wahrnimmt. Klein, kompakt, tragbar und in der Anwendung leicht zu verstehen – damit ist die Box gut geeignet, um mobil genutzt zu werden.
Vorsorgeuntersuchungen unterstützen
Natalie Boll-Avetisyan wünscht sich, dass ihr Spielzeug künftig in der kinderärztlichen U6-Untersuchung, also zwischen dem zehnten und zwölften Lebensmonat, eingesetzt wird. „Wir wollten ein Werkzeug haben, das beim regulären Kinderarztbesuch einen Stand ermitteln kann.“ Bisher werden die Kleinen erst bei der U7 um ihren zweiten Geburtstag herum auf ihre sprachliche Entwicklung getestet. Bei der Untersuchung müssen sie unter anderem einen gewissen Wortschatz nachweisen. Es wird geprüft, welche Worte die Kinder verstehen, welche sie verwenden oder ob sie kurze Sätze mit ihnen bilden können. „Aber nicht alle Sprachstörungen sind auf einen kleinen Wortschatz zurückzuführen“, erklärt Natalie Boll-Avetisyan.
Wer bei der U7 auffällt, wird zunächst als „late talker“ kategorisiert, zählt also zu den Spätsprechenden. Von diesen Kindern können circa 50 Prozent ihre sprachlichen Defizite aufholen. Dieser uneindeutige Befund, die drohenden Therapiekosten und die Befürchtung, eine frühzeitige Behandlung könnte bei Kind und Eltern ein Problembewusstsein entstehen lassen, würden laut Natalie Boll-Avetisyan dazu führen, dass die Krankenkassen keine Maßnahmen unterstützen, die schon in diesem frühen Alter ansetzen. Für die Eltern gibt es lediglich die Möglichkeit, ihre Kinder privat mithilfe des „Heidelberger Elterntrainings“ sprachlich zu fördern. Dabei sollen sie beispielsweise in alltäglichen Gesprächen Sätze wiederholen oder durch andere Handlungen unterstützen. Voraussetzung für eine verordnete Therapie ist, dass eine Sprachstörung diagnostiziert wird. Die Diagnose wird aktuell aber frühestens im Alter von vier Jahren gestellt. „Risikoscreenings sowohl bei der U6 als auch bei der U7, deren Ergebnisse kombiniert werden, könnten zu einer früheren Diagnose führen“, sagt Natalie Boll-Avetisyan. „Eine Sprachstörung ist nicht heilbar, aber gut therapierbar. Allerdings sind die Behandlungsmethoden effektiver, je früher man damit beginnt.“
Zu Beginn des Projektes, das 2021 mit dem FöWiTec- Preis der UP Transfer GmbH ausgezeichnet wurde, haben Natalie Boll-Avetisyan und ihr Team getestet, welche Präferenz die Babys für Betonungsmuster von Kunstwörtern haben. Das Ergebnis war eindeutig: „Die Kinder wollen lieber das deutsche Betonungsmuster hören als eines, das in der Muttersprache nicht häufig vorkommt.“ Das heißt, sie bevorzugen auch schon im Babyalter eine betonte erste Silbe, die für das Deutsche typisch ist.
Sprachliche Präferenzen auf dem Prüfstand
Mithilfe der beiden Drucktasten am Spielzeug kann Natalie Boll-Avetisyan erfassen, wie die Kinder auf verschiedene lautliche Reize als Gegensatzpaare reagieren – und diese Reaktionen gewissermaßen abfragen. Die Wissenschaftlerin will damit künftig noch weitere Reaktionen auf andere Stimuli untersuchen: Ziehen die Babys Gesprochenes einem Rauschen vor? Bevorzugen sie reale Wörter gegenüber Kunstwörtern? Reagieren sie eher auf eine auf das Kind gerichtete Sprache als darauf, wie sich Erwachsene unterhalten? Ob man anhand der Präferenzen eindeutig eine Störung zuordnen kann, lässt sich bisher nur grob sagen. Dazu seien die Sprachentwicklungsstörungen noch zu wenig erforscht.
Wie sich das Krankheitsbild äußert, ist aber bekannt. „Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen verstehen lange Sätze nicht gut oder müssen lange nach Wörtern suchen“, erklärt die Professorin. „Wenn ihr Alltag durch Missverständnisse und Frust geprägt ist, können die Betroffenen psychische Erkrankungen entwickeln, die sie ihr ganzes Leben lang begleiten.“ Es ist dabei ganz unterschiedlich, wie viele Symptome die Kinder auf sich vereinen. Die Wissenschaftlerin will deshalb bei Eltern, in Kindergärten und Schulen ein Bewusstsein für die Störung schaffen und Aufklärungsarbeit leisten.
Umso wichtiger ist es, das Testspielzeug fit für die Kinderarztpraxis zu machen: Natalie Boll-Avetisyan möchte den Behandelnden einen Leitfaden zusammenstellen, in dem Kriterien und Normwerte aufgeführt sind, die eine Risikoerkennung erleichtern. Außerdem soll das Spielzeug mit einem Display ausgestattet werden, damit Ärztinnen und Ärzte die Ergebnisse einfach auswerten können. Bis es zur Markteinführung kommt, hat die Wissenschaftlerin auch noch die Validierung für den medizinischen Zweck vor sich. Dafür möchte sie sich Unterstützung aus dem Potsdamer Kollegium suchen.
Bislang haben fast 100 Babys an ihrer Studie teilgenommen. Die Forscherin konzentriert sich im ersten Schritt auf monolinguale, deutschsprachige Kinder im Alter von neun Monaten. Für die Zukunft möchte sie aber auch Daten von bilingualen Probandinnen und Probanden sammeln und alle befragten Kinder über Jahren hinweg in ihrer Entwicklung begleiten. Gerade bilinguale Kinder mit Sprachstörungen würden noch kaum erkannt, weil Schwierigkeiten beim Sprechen auf eine natürliche Verzögerung durch den Einfluss mehrerer Sprachen zurückgeführt werden.
Nachgewiesenermaßen hatten die Babys Freude am Spielen mit der Box. Manche beschäftigen sich bis zu einer Viertelstunde damit. Schon in der ersten Studie zeigte sich, dass die Kinder länger den Knopf drücken, von dem die Forschenden eine Präferenz erwartet haben. Konkret heißt dies, das Spielzeug funktioniert wie erhofft. Nur einen Namen hat es noch nicht.
FöWiTec-Preis der Universität Potsdam zur Förderung des Wissens- und Technologietransfers
Mit insgesamt 50.000 Euro fordert Potsdam Transfer – die zentrale Einrichtung für Innovation, Gründung, Wissens- und Technologietransfer an der Universität Potsdam – jährlich bis zu fünf anwendungsorientierte Forschungs- und Entwicklungsprojekte. Potsdam Transfer unterstützt bei der Entwicklung der Idee und sorgt gemeinsam mit der UP Transfer GmbH dafür, dass die Projekte erfolgreich umgesetzt werden können.
https://www.uni-potsdam.de/de/potsdam-transfer/transferservice/foewitec
Die Forscherin
Prof. Dr. Natalie Boll-Avetisyan studierte Linguistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Utrecht University. 2012 promovierte sie am Utrecht Intitute of Linguistics. Seit 2010 sie an der Universität Potsdam tätig. 2019 wurde sie zur Juniorprofessorin für Developmental Psycholinguistics ernannt und erforscht den frühkindlichen Spracherwerb.
E-Mail: nataliepboll-avetisyanuuni-potsdam
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2023 „Lernen“ (PDF).