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„Secret Intelligence war selten völlig secret“ – Der Militärhistoriker Sönke Neitzel über die Rolle der Geheimdienste im Ukraine-Krieg

Der Militärhistoriker Prof. Dr. Sönke Neitzel im Interview. Das Foto ist von Thomas Roese.
Photo : Thomas Roese
Der Militärhistoriker Prof. Dr. Sönke Neitzel

Der Krieg in der Ukraine findet nicht nur im Donbass, den Vororten Kiews und anderen ukrainischen Großstädten statt. Er tobt auch im Verborgenen. Schon lange bevor die ersten russischen Panzer die Grenze zur Ukraine überquerten, warnten US-amerikanische Geheimdienste vor einer russischen Invasion, während auf der anderen Seite die russische Spionage eine Fehleinschätzung der ukrainischen Verteidigungsmöglichkeiten lieferte. Seitdem mischen verschiedenste Geheimdienste in diesem Konflikt mit – mal mehr, mal weniger offen. Matthias Zimmermann sprach mit dem Militärhistoriker Prof. Dr. Sönke Neitzel über die Rolle der Geheimdienste im Ukraine-Krieg, das Spiel mit veröffentlichten Geheimnissen und den Folgen gescheiterter Spionage.

Welche Rolle spielen Geheimdienste in diesem Konflikt?

Nachrichtendienste spielen zweifellos eine sehr wichtige Rolle. Das beginnt schon bei der offensichtlich falschen Vorstellung, welche die russischen Dienste über die Widerstandsfähigkeit der Ukraine gezeichnet haben, und reicht bis zu dem genauen Bild, das die Ukrainer von dem russischen Angriff hatten. Deshalb konnten sie sich gut vorbereiten und haben die Schlacht um Kiew gewonnen.
 
Die US-Geheimdienste gaben und geben sich mit Blick auf den Ukraine-Krieg ungewohnt transparent. Schon in den Monaten vor der Invasion wurde relativ offen formuliert, dass ein solcher Schritt bevorstehen könnte. Und sie machen weiterhin viele „Erkenntnisse“ oder auch Anzeichen für Dinge, die passieren könnten, öffentlich. Warum? Ist das eine neue Art der Diplomatie in Kriegszeiten?

Die Veröffentlichung von Geheimdienstinformationen war ein Versuch, um Putin vom Angriff abzuhalten. Getreu dem Motto: Sieh her, wir wissen, was Du vorhast. Lass es besser bleiben.
 
Mitunter heißt es, dass die Aufklärungsdaten und Insiderinformationen der US-Geheimdienste seien wertvoller als Waffenlieferungen. Wie sehen Sie das?

Waffen allein gewinnen keinen Krieg. Man sollte auch wissen, wie und wo man sie einsetzen muss. Nach allem, was an Informationen durchsickert, scheint die Unterstützung durch die westlichen Nachrichtendienste für das Lagebild der ukrainischen Streitkräfte von unschätzbarem Wert zu sein.
 
Zuletzt wurde vermeldet, US-Geheimdienstinformationen hätten den Ukrainern die gezielte Tötung zahlreicher ranghoher russischer Militärs ebenso ermöglicht wie die Versenkung des Flaggschiffs der russischen Schwarzmeerflotte „Moskau“. Ist da etwas dran? Und falls ja: Würden die USA nicht gut daran tun, dies geheim zu halten? Werden sie so nicht früher oder später doch zur „Kriegspartei“, was ja um jeden Preis verhindert werden soll?

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit liefern die amerikanischen Nachrichtendienste den Ukrainern auch Zieldaten. Dass sie dies zumindest über die Hintertür auch zugeben, ist in der Geschichte der Nachrichtendienste keine Ausnahme. Secret Intelligence war selten völlig secret. Insbesondere in den USA und Großbritannien gab es einen Hang, Geheimnisse auch mal auszuplaudern, um öffentlichen Zuspruch zu erhalten. Kriegspartei werden die USA zumindest nach meinem völkerrechtlichen Verständnis aber nicht. Allerdings überblicke ich als Historiker die Rechtslage auch nicht in jedem Detail.
 
Immer wieder ist zu lesen, einer der Gründe dafür, dass die russische „Militärische Spezialoperation“ nicht so läuft, wie sie soll, seien krasse Fehleinschätzungen oder gar -leistungen der russischen Geheimdienste. Ist das so? Und wenn ja, woran liegt das?

Wir können das nur schwer beurteilen. Aber ganz offensichtlich lag dem russischen Angriff eine falsche Lagebeurteilung zugrunde. Die Frage ist nur, wer hier welchen Fehler gemacht hat. Wurden Informationen nicht weitergegeben? Wurde die Situation bewusst optimistisch umgedeutet, um politisch zu gefallen? Oder hat man von den Vorbereitungen der Ukrainer schlicht zu wenig mitbekommen? Dass sich Nachrichtendienste auch nach den Überzeugungen der politischen Führung ausrichten, kam in der Geschichte immer wieder vor und wäre nichts Neues. Man denke nur an die Lageanalyse von britischen und amerikanischen Geheimdiensten, dass Saddam Hussein über Massenvernichtungswaffen verfügen würde.
 
Unter den wenigen Menschen, denen Putin wirklich vertraut, sollen viele Geheimdienstler sein, naheliegend, da er selbst im Geheimdienst „groß geworden“ ist. Nun landen die ersten seiner Weggefährten im Gefängnis oder Hausarrest, wie Sergei Beseda vom FSB. Fällt ausgerechnet der bekannteste russische Geheimdienst beim Präsidenten in Ungnade?

Das zumindest partielle Scheitern der russischen Offensive ist eine Demütigung Putins auf der internationalen Bühne. Er wird dies den Verantwortlichen nicht verzeihen.

Es mischen nachweislich aber auch noch andere Geheimdienste in diesem Konflikt mit. So hat der Bundesnachrichtendienst (BND) Belege dafür vorgelegt, dass russische Militärs für die Gräueltaten von Butscha verantwortlich sind. Der Nachrichtendienst hat Funksprüche abgefangen. Wie funktioniert das von Deutschland aus? Kann man davon ausgehen, dass auch deutsche Geheimdienste stärker involviert sind?

Der BND ist traditionell in der Russlandaufklärung und auch in der sogenannten Signal Intelligence gut aufgestellt. Der BND verfügt damit über die technischen Mittel, elektronische Kommunikation in Russland sehr umfassend abzuhören. Wie er im Detail involviert ist, welche Informationen er etwa an Kiew liefert, ist öffentlich nicht bekannt. Ich gehe aber davon aus, dass es eine enge Zusammenarbeit zwischen ukrainischen und deutschen Diensten gibt. Es hatte schon einen Grund, warum Bruni Kahl, der Präsident des BND, am 23. Februar trotz interner Warnungen nach Kiew flog.

 

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Online editorial

Sabine Schwarz