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„Die Hilfsbereitschaft ist überwältigend“ – Magdalena Marszałek über Polens Perspektive auf den Krieg in der Ukraine

Portrait von Prof. Dr. Magdalena Marszałek. Das Foto ist privat.
Photo : privat
Prof. Dr. Magdalena Marszałek

Seit zwei Monaten tobt der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Während ein Teil der ukrainischen Bevölkerung ihr Land in der Heimat verteidigt, mussten andere alles hinter sich lassen und fliehen. Polen ist als Nachbarstaat sehr nah an den Geschehnissen dran. Für über 2,5 Millionen Ukrainerinnen und Ukraine ist das Land zum Zufluchtsort geworden. Magdalena Marszałek, Professorin für slavische Literatur- und Kulturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Polonistik, erläutert im Interview, wie sich die polnische Zivilbevölkerung für die ukrainischen Geflüchteten einsetzt, warum das 2015 während der „Flüchtlingskrise“ noch anders war und was Polen historisch mit der Ukraine verbindet.

Frau Prof. Marszałek, wie sieht man in Polen das Verhalten Deutschlands und der europäischen Gemeinschaft zum aktuellen Kriegsgeschehen?

Wenn man heute von Polen spricht, muss man die gegenwärtige extreme politische Polarisierung im Lande stets mitdenken. Die rechtspopulistische Regierungskoalition ist für ihre antideutsche und Anti-EU-Rhetorik bekannt, die keineswegs mehrheitlich von der polnischen Gesellschaft unterstützt wird. Generell begrüßt man jedoch in Polen – parteiübergreifend – die aktuelle politische Wende in Deutschland, die aus der (späten) Erkenntnis des Bedrohungspotentials von Putins autoritärem Regime resultiert. Ist das polnische ‚kulturelle Unbewusste‘ durchaus von einem, manchmal auch ins Paranoide umschlagenden, Misstrauen gegenüber Russland bzw. der russischen Herrschaft geprägt, so ist das deutsche ‚kulturelle Unbewusste‘ geradezu ein Gegenteil davon. Das hat auch historische Gründe. Nicht alle politischen Entscheidungen lassen sich ausschließlich rational erklären, so auch nicht das in vielerlei Hinsicht blinde Bestehen Deutschlands auf gute Beziehungen zu Putin. Ein radikales Umdenken hat jedoch gerade in Deutschland begonnen, was in Polen mit Neugierde und Zustimmung beobachtet wird.

Die erste Anlaufstelle vieler ukrainischer Flüchtender ist Polen. Einige von ihnen machen sich danach mit dem Zug auf nach Berlin. Wie können Polen und Deutschland noch besser für die Unterstützung der geflüchteten ukrainischen Bevölkerung zusammenarbeiten?

Die Hilfsbereitschaft für die Geflüchteten aus der Ukraine ist in Polen zurzeit tatsächlich überwältigend. Von den 2,5 Millionen Menschen aus der Ukraine, die in den letzten Wochen in Polen Zuflucht gefunden haben, werden die meisten in nächster Zeit auch in Polen bleiben. Sicherlich wird Polen u.a. finanzielle Hilfe für die Absicherung der notwendigen Infrastruktur benötigen. Ein solcher Zuwachs an Bevölkerung innerhalb von einigen Wochen ist eine Herausforderung für den Wohnungsmarkt, für das Schulwesen und die medizinische Versorgung. Im Alltag trägt derzeit die Zivilgesellschaft die größte Last: Ukrainische Geflüchtete werden vor allem in private Wohnungen direkt von polnischen Familien aufgenommen. Es ist verständlich, dass sich nach einigen Wochen auch Ermüdung und Verzweiflung bemerkbar machen. Wichtig ist jedoch – in Deutschland wie in Polen –, dass die Bereitschaft zur Hilfe nicht nachlässt. Das erfordert auch schnelle strukturelle Maßnahmen. Genauso wichtig ist auch eine koordinierte Hilfe für die kämpfende Ukraine. Um die Waffen kümmern sich hoffentlich die Regierungen, die deutschen und die polnischen freiwilligen Helfenden können bei der Versorgung der Menschen in der Ukraine mit Nahrungsmitteln, Kleidung, Medikamenten usw. zusammenarbeiten. Gerade eben lese ich in einer polnischen Zeitung, dass die polnischen Reserven an speziellen Verbundmaterialien, die bei schwer verwundeten Soldaten das Ausbluten verhindert können, schon komplett ausgeschöpft sind, da könnten schnelle Lieferungen z.B. aus Deutschland helfen.

Während der „Flüchtlingskrise“ 2015 war Polen eher zurückhaltend, den Menschen aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak zu helfen oder später die Flüchtenden an der belarussisch-polnischen Grenze aufzunehmen. Was ist Ihrer Meinung nach der Unterschied zum Umgang mit den ukrainischen Geflüchteten?

Ja, das ist ein sehr schwieriges Thema, das auch in Polen jenseits der Anhängerschaft von Rechtspopulisten kritisch diskutiert wird. Wir müssen leider annehmen, dass im Herbst 2015 die damalige Flüchtlingskrise wesentlich zum Wahlsieg der rechtsnationalen Konservativen von PiS beigetragen hat, die in der rechtspopulistischen Manier die Angst vor Flüchtlingen im Wahlkampf massiv geschürt hatten. Generell war aber die polnische Gesellschaft damals nicht vorbereitet auf eine solche Entwicklung. Heute ist es anders, auch wegen der humanitären Katastrophe an der polnisch-belarussischen Grenze. Die rechtskonservative Koalition agiert hier mit einer besonderen Härte auch aus dem Grund, dass es sich dabei um eine vorsätzliche Maßnahme von Lukaschenko und Putin handelt, mit angeschleppten Migrantinnen und Migranten Polen und die EU destabilisieren zu wollen. Dieser Umstand rechtfertigt aber nicht im Geringsten die Missachtung des EU-Asylrechts durch die polnische Regierung. Dies und die Tatsache, dass es sich bei den Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze um Menschen handelt, die Opfer eines zynischen ‚hybriden Kriegs‘ der beiden Despoten gegen Europa sind, mobilisierte viele polnische Helfende, die sich in Gruppen organisieren, um in den Wäldern an der Grenze nach sich versteckenden Geflüchteten zu suchen und ihr Leben zu retten. Im Unterschied zu Menschen, die den ukrainischen Geflüchteten helfen, werden die Helfenden an der polnisch-belarussischen Grenze, die Zone des Ausnahmezustands ist, illegaler Handlungen bezichtigt. Sie sind polizeilichen Schikanen und auch gerichtlicher Verfolgung ausgesetzt. Der erste Prozess gegen eine 20-jährige Warschauer Studentin wegen „illegaler Hilfe“ hat gerade begonnen – ein Skandal in den Augen des liberalen Teils der polnischen Gesellschaft. Es gibt Stimmen, die sagen, dass die außergewöhnliche Hilfsbereitschaft in Polen für die Ukraine auch etwas mit dem schlechten Gewissen wegen der Geflüchteten, die im Wald an der polnisch-belarussischen Grenze sterben, zu tun hat. Das ist gewiss nicht die ganze Wahrheit, aber es zeigt auch, wie gespalten und – auch im positiven Sinne – radikalisiert die polnische Gesellschaft nach den inzwischen sieben Jahren der rechtspopulistischen Regierung ist.

Die russisch-polnischen Beziehungen sind seit der Souveränität Polens in den 1990er Jahren schwierig. Wie beeinflusst der Ukrainekrieg die aktuelle Beziehung mit Russland? Und was könnte sich künftig daran noch ändern?

Nach der Wende von 1989 waren die polnischen Beziehungen zu Russland keineswegs nur schwierig. Es gab auch Momente politischer Annäherung wie auch Austausch im kulturellen Bereich; die polnische Reiseliteratur hat zum Beispiel Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion mit großem Interesse und auch nicht ohne Sympathie intensiv neu erkundet. Dem hat aber das Erstarken der autoritären Macht von Putins Regime und nun der brutale Angriffskrieg ein Ende gesetzt. Ich denke, dass momentan niemand sagen kann, wie die Beziehung von Polen und anderen EU-Ländern zu Russland künftig sein wird. Das hängt davon ab, was jetzt bzw. nach dem Krieg in Russland passieren wird.

Polen und die Ukraine sind sich als Nachbarstaaten nicht nur räumlich nahe. Wie sieht ihre gemeinsame Geschichte aus?

Polen und Ukraine haben eine lange und keineswegs einfache gemeinsame Geschichte. Sie ist von einer Verflechtung gekennzeichnet, welche viel tiefer ist als ‚nur‘ eine Nachbarschaftsgeschichte. Zu dieser Geschichte gehören sowohl polnische Kolonisierungs- und Herrschaftsansprüche in der Frühen Neuzeit als auch konkurrierende nationale Projekte in der Moderne, aber ebenso eine gegenseitige kulturelle Beeinflussung und Faszination. Die polnische Romantik zum Beispiel, vom Verlust der polnischen Staatlichkeit traumatisiert, ist von der Ukraine geradezu besessen – da vermischen sich koloniale Vorstellungen mit einem romantischen Orientalismus und verklärenden Vergangenheitsbildern, aber auch mit progressiven Freiheitsideen. Die Ukraine ist bis heute ein großes Thema in der polnischen Literatur.

Die gemeinsame Geschichte beginnt im 14. Jahrhundert, im späten Mittelalter, mit der Expansion des polnischen Königreichs nach Osten. Jahrhundertelang gehören dann die ukrainischen Gebiete zur polnisch-litauischen Adelsrepublik, einem vormodernen mitteleuropäischen Imperium. Immer mehr ukrainische Gebiete geraten aber im Laufe der Zeit unter die russische Herrschaft, bis sie schließlich bei den sogenannten „polnischen Teilungen“ Ende des 18. Jahrhunderts gänzlich zwischen dem russischen und dem Habsburger Reich aufgeteilt werden. In Galizien, einer Provinz des Habsburger Reichs, leben dann Polen, Ukrainer und Juden eng miteinander zusammen – und es ist gleichzeitig bei allen drei Völkern eine Zeit der Entwicklung moderner Nationsideen. Nach dem Ersten Weltkrieg, als die über einen langen Zeitraum stabile imperiale europäische Ordnung zerfällt, wird der polnische Staat wiederhergestellt, zu dem auch Gebiete gehören, die auf dem Lande mehrheitlich von Ukrainern bewohnt sind. Die ukrainischen Versuche, nach dem Großen Krieg einen unabhängigen Staat zu errichten, scheiterten, nicht zuletzt am imperialen Anspruch der damals jungen Sowjetunion, in deren Grenzen die ukrainische Sowjetrepublik entstanden ist. Die ukrainische Minderheit in Polen war mit 5 Millionen Menschen die größte in der polnischen Republik der Zwischenkriegszeit, in der übrigens insgesamt 30 Prozent der Bevölkerung keine ethnischen Polen waren. Ungeachtet dieser Tatsache wurde die Republik wie ein Nationalstaat regiert, was zu großen Konflikten zwischen dem Staat und seinen Minderheiten führte. Auf die Diskriminierung und Einschränkung der Minderheitenrechte reagierte der radikale Flügel der ukrainischen Nationalisten in den 1930er Jahren mit Terror; in diesem Umfeld begann auch die unheilvolle politische Karriere von Stepan Bandera. Besonders dramatisch war die Zeit des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust, deren Aufarbeitung bis heute nicht abgeschlossen ist. 1945 wurden die Grenzen des polnischen Staats nach Westen verschoben und die gesamten ukrainischen Gebiete, auch die westlichen, wurden innerhalb der sowjetischen Ukraine vereinigt.

Und wie sah es nach dem Zweiten Weltkrieg aus?

1945 endet die fünfhundert Jahre lange polnisch-ukrainische Koexistenz in unterschiedlichen imperialen und staatlichen Gebilden, zugleich beginnt aber eine Zeit des Nachdenkens über diese Geschichte und des ‚Lernens aus der Geschichte‘. Das alles passiert natürlich – zu Zeiten des sowjetisch beherrschten ‚Ostblocks‘ – in der Dissidenz und im Exil, auch in Zusammenarbeit von polnischen mit ukrainischen Intellektuellen. Zu diesem Umdenken gehörte die endgültige Verabschiedung von den kolonialen Phantasien eines polnischen Ostens wie auch die Erkenntnis, dass nur unabhängige und befreundete polnische und ukrainische Staaten dem russischen bzw. sowjetischen Imperialismus standhalten können. Im Pariser Zentrum der polnischen Emigration entsteht jahrzehntelang vor dem Zerfall der Sowjetunion eine politische Vision eines freien Ostmitteleuropas, zu dem einige von der Sowjetunion unabhängige Staaten gehören, darunter auch ein ukrainischer Staat – mit unantastbaren Grenzen, ohne jeglichen Revisionismus. Man muss sagen, dass diese politische Vision im gesamten politischen Spektrum des unabhängigen Polen seit 1989 Konsens ist. So war Polen auch der erste Staat, der 1991 die Unabhängigkeit der Ukraine offiziell anerkannt hat.

Sie sind in Ihrer Forschung unter anderem auf polnisch-ukrainische und polnisch-russische Kulturkontakte spezialisiert. Wie wird sich der Krieg auf die polnische Literatur- und Kulturwissenschaft auswirken?

Der Krieg wird sich gravierend auf unsere Fächer auswirken – vor allem auf das Selbstverständnis der Osteuropa-Forschung, die wir bei uns am Institut für Slavistik gemeinsam vertreten, und der Russistik. Es ist klar, dass wir wahrscheinlich noch länger auf die Kooperation mit russischen Partnern werden verzichten müssen, zugleich wird aber auch die kulturwissenschaftliche Analyse der Entwicklungen, die zum Krieg geführt haben, umso wichtiger. Hierzu können wir noch enger mit unseren polnischen Partnern zusammenarbeiten, u.a. im Rahmen unseres Double-Degree-Tracks mit der Universität Warschau im Master Osteuropäische Kulturstudien. Ganz sicher werden wir uns noch intensiver als bisher mit populistischen Rhetoriken, mit der medialen Propaganda und Desinformation sowie mit militanten Geschichtspolitiken beschäftigen. Es sind alles Phänomene eines Kulturkriegs, den die rechten Populisten weltweit, auch in Polen, gegen die liberale Demokratie führen. Wir wissen jetzt, dass dies in Verbindung mit einem imperialen Revanchismus zu einem Vernichtungskrieg führen kann.

 

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Online editorial

Sabine Schwarz