Nachhilfe, Tutoring, Paukschulen – außerschulische Lernangebote haben Konjunktur. Vor allem dort, wo die Schule vermeintlich schwächelt. In Japan etwa hat sich dafür neben dem Schul- ein zweites Bildungssystem etabliert, die sogenannte „Shadow Education“. Sie soll jenen Erfolg bringen, den Schule nach Ansicht der Eltern nicht garantieren kann. Der Bildungswissenschaftler Steve Entrich ist der Frage nachgegangen, ob dieses Schattensystem soziale Ungleichheiten in der japanischen Gesellschaft noch verstärkt oder sogar Möglichkeiten bietet, sie zu überwinden. Sein Fazit: Zweimal ja, aber …
Dass Schüler nicht nur in der Schule lernen, ist nicht neu. Doch dass immer mehr Kinder und Jugendliche pauken gehen, wenn die Schule längst aus ist, durchaus. Nachhilfe ist ein globales Phänomen – und zwar eines, das an Fahrt gewinnt. Noch 2003 hatten in Deutschland von den 17-Jährigen nur rund 27 Prozent bereits einmal bezahlte Nachhilfe erhalten, 2013 waren es 47 Prozent. Auch in den USA und Kanada ist die Zahl der Nachhilfeschüler seit den 1990er- Jahren um das Zwei- bis Dreifache gestiegen. „Die boomende Nachhilfe hat sich in der Bildungsforschung aber bislang kaum niedergeschlagen“, konstatiert Steve Entrich. „Dabei ist sie eng verknüpft mit den jeweiligen Bildungssystemen – und sie zu untersuchen könnte Rückschlüsse auf diese zulassen. So nimmt man an, dass Nachhilfe soziale Ungleichheiten eher verstärkt.“
Die Privatisierung des Bildungssystems verschärft den Wettkampf
Eine These, der Entrich in seinem Dissertationsprojekt nachgegangen ist. Der Fokus lag dabei auf Japan, einem Land, in dem Bildung einen enorm hohen Stellenwert besitzt und aufgrund weitreichender Privatisierung einem verschärften Wettbewerb unterworfen ist, der längst marktwirtschaftliche Züge trägt. Während Grund- und Mittelschule noch überwiegend öffentlich sind, ist fast ein Drittel der sogenannten Oberschulen in privater Hand. Wer eine der begehrten Schulen besuchen will, muss eine – als überaus anspruchsvoll bekannte – Aufnahmeprüfung absolvieren. Ein Verfahren, das sich beim Übergang zum Hochschulstudium an einer Universität, die nahezu alle privat sind, wiederholt. Die Prüfungen gelten als knüppelhart, stellen ein schonungsloses Aussieben im Ringen um die bestmöglichen Ausgangspositionen für den Arbeitsmarkt dar. Es heißt, ausschlaggebend sei späterhin nicht das Hochschulzeugnis, sondern die besuchte Universität. Die Unis werden in einem jährlichen Ranking bewertet, aus dem auch hervorgeht, welches Ergebnis die Schulabsolventen in der Aufnahmeprüfung erreichen müssen, um dort studieren zu können, wo sie es wollen.
Von der „Shadow Education“ zur Juku-Industrie
Karriere wird so beinahe planbar – und direkt an die Schullaufbahn gekoppelt. Bildungserfolg gilt derweil vor allem als Ergebnis von Fleiß und Opferbereitschaft. „Das japanische Bildungssystem versteht Schüler anders als wir hier in Deutschland“, erklärt Steve Entrich. „Ist hier ein Schüler schlecht, suchen wir nach den Ursachen dafür. Ein schlechter japanischer Schüler gilt schlicht als nicht fleißig genug“, erklärt der Forscher. „Vier gewinnt, fünf verliert“, so laute ein passendes japanisches Sprichwort. Es bedeutet, wer nur vier Stunden schläft, hat mehr Zeit zum Pauken und erreicht bessere schulische Leistungen. „Fünf Stunden Schlaf sind da schon eine zu viel.“
Kein Wunder, dass japanische Eltern wortwörtlich über die Wahl der Schule hinaus in die Ausbildung ihrer Kinder investieren: Neun von zehn Schülern erhalten im Laufe ihrer Schullaufbahn kostenpflichtige Nachhilfe. Diese Bedeutung außerschulischer Bildung spiegelt sich auch im Angebot wider: Während es in Deutschland etwa 4500 Nachhilfeschulen gibt, existieren in Japan rund 50.000 Jukus, wie die privaten japanischen Nachhilfeschulen heißen. „Es gibt sie in unterschiedlichster Größe: von der kleinen Nachbarschafts-Juku bis zum weltweit agierenden, börsennotierten Bildungsunternehmen – und mit sehr verschiedenen inhaltlichen Ausrichtungen“, berichtet Steve Entrich. Zu jeder Stufe, jeder Ausdifferenzierung, jedem Element des japanischen Bildungssystems habe sich eine passende Juku entwickelt: Manche bieten wie in Deutschland Nachhilfe zur Verbesserung der Noten an, andere bereiten gezielt auf die Aufnahmeprüfungen für Oberschule oder Universität vor, dritte vermitteln Kompetenzen, die über das schulische Portfolio hinausgehen – Sonderunterricht für Einserkandidaten. Es gibt sogar Jukus für Schulphobie und solche, die Elterncoaching anbieten. Zusammen bilden sie ein zweites, ergänzendes Bildungssystem: die „Shadow Education“.
Angesichts eines Gesamtumsatzes von 8,7 Milliarden US-Dollar allein im Jahr 2014 spricht man längst von einer Juku-Industrie. Und diese wird nicht müde, das erkämpfte Territorium zu verteidigen. „Das System der Jukus hat sich mittlerweile unverzichtbar gemacht – und auch als überaus flexibel erwiesen“, so der Bildungsforscher. Dem Druck des demografischen Wandels hat es sich ebenso angepasst wie den Versuchen der Politik, den Wettbewerb mithilfe von Reformen zu entschärfen. Als das Schulcurriculum um 30 Prozent reduziert wurde, war die Juku-Industrie zur Stelle, um diese Lücke zu füllen. So kommen heute noch immer mehr als 90 Prozent der Schülerschaft im Verlaufe ihrer zwölfjährigen Schullaufbahn mit Shadow Education in Kontakt, häufig über Jahre hinweg.
In Deutschland hat Nachhilfe eine ganz andere Funktion als in Japan
Es sind diese hochkomplexe „Shadow Education“ und ihre gesellschaftliche Rolle, die es Steve Entrich angetan haben. „Soziale Ungleichheit hat mich schon immer interessiert – und als vergleichender Bildungsforscher untersuche ich, welche Stellschrauben Gesellschaften haben, um auf diese einzuwirken.“ Ursprünglich wollte er die außerschulischen Bildungssysteme Deutschlands und Japans vergleichen. Immerhin sind die Unterschiede enorm: Während Nachhilfe in Deutschland überwiegend von denen in Anspruch genommen wird, die unterdurchschnittliche Noten haben, sind es in Japan auffällig viele überdurchschnittlich gute Schüler. Das zeigt die völlig andere Funktion von Nachhilfe: In Deutschland soll sie helfen, kurzfristig einen Rückstand aufzuholen. Japaner investieren mit der Juku zumeist in einen Vorsprung.
„Ich habe mich dann schnell auf Japan fokussiert. Zum einen, weil es zur deutschen Nachhilfe schlicht wenig bis keine Daten gibt“, erläutert Steve Entrich. „Die PISA-Daten allein sagen zu wenig aus. Da hierfür die 15-Jährigen nur einmal befragt werden, wissen wir nicht, welchen Effekt die Nachhilfe für sie hat.“ Für Japan war das anders, wenngleich auch in diesem Fall die PISA-Ergebnisse irreführend sind. So rangiert das Land im Ranking mehrfach am unteren Ende, wenn es um privates Tutoring und den Besuch von Nachhilfeschulen geht. 2012 sollen nicht mal 20 Prozent der Zehntklässler Nachhilfe erhalten haben. „Ich habe mir dann die Fragebögen angeschaut und festgestellt, dass sie so übersetzt waren, dass die japanischen Schüler gar nicht wissen konnten, was gemeint war“, klärt der Wissenschaftler auf. Was die Daten daher nicht zeigen: Mehr als 80 Prozent der Siebent- bis Neuntklässler nutzen „Shadow Education“.
Für seine Forschung konnte Steve Entrich auf eine japanische Studie zurückgreifen, bei der 3.800 Schüler am Übergang zur Oberschule gefragt wurden, welche Nachhilfeangebote sie bislang genutzt hatten. Ergänzend führte er 2013 eine eigene Erhebung durch, für die er an 20 Jukus Schüler, Lehrer und die Leiter befragte. Eine knifflige Aufgabe: „Rein kam ich eigentlich nur durch Empfehlungen“, erinnert er sich. „Aber einmal ‚drin‘, wurde es leichter, an weitere Kontakte zu kommen.“ Mithilfe dieser Daten konnte er bestimmen, welche Jukus in welchen Phasen einer Schullaufbahn besonders in Anspruch genommen werden. So haben jene Jukus, die auf die verschiedenen Aufnahmeprüfungen vorbereiten, vor den Übergängen zur Mittelschule, Oberschule und Universität Hochkonjunktur. Es war ihm auch möglich, die Schülerschaft hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Standes differenziert zu betrachten. Was Steve Entrich im Kern interessierte, war, ob die Juku- Industrie soziale Ungleichheiten letztlich fortschreibt oder auch Möglichkeiten bietet, diese zu überwinden. Ist der Bildungs- und damit der Berufserfolg in Japan denen vorbehalten, die mehr in außerschulische Bildung investieren können als andere? Oder können Schüler aus sozial benachteiligten Schichten mithilfe von Juku-Angeboten „aufsteigen“?
Sozial Benachteiligte können von der Nachhilfe besonders profitieren
Dafür hat der Forscher im Einzelnen untersucht, wer Zugang zur „Shadow Education“ hat und mit welchem Erfolg sie genutzt wird. „Es zeigte sich, dass ‚Shadow Education‘ beides sein kann: ein Instrument sozialer Exklusion und eine Chance für soziale benachteiligte Schüler“, so Steve Entrich. Manche Jukus sind unteren Schichten mehr oder weniger verschlossen, weil sie zu teuer sind. Ihre Vorteile bleiben denen vorbehalten, die es sich leisten können. Zudem kann, wer mehr Geld hat, schlicht in mehr Nachhilfe investieren. Das bestätigt grundsätzlich die Annahme, dass das System bestehende Ungleichheiten eher zementiert. „Aber die sozial Benachteiligten kommen ganz gut in anderen Jukus unter. Und wenn sie ihre beschränkten Mittel richtig investieren, profitieren sie von der ‚Shadow Education‘ – und zwar stärker als andere“, bilanziert der Bildungsforscher. Bestätigt wird dies vom verhältnismäßig großen Anteil an Bildungsaufsteigern in der japanischen Gesellschaft, die es trotz schlechter Ausgangsbedingungen an die besten Universitäten und anschließend in Führungspositionen schaffen. Doch wer die „Shadow Education“ tatsächlich bestmöglich nutzen will, sollte Entrich zufolge einige Bedingungen erfüllen: Die Schüler müssten grundsätzlich fleißig sein und selbst hohe Ambitionen mitbringen, also den Wunsch, ein hohes Bildungsniveau zu erreichen. Daran anknüpfend sollten die Investitionen in Juku-Angebote auf ein klares Ziel ausgerichtet sein, etwa die Aufnahmeprüfungen für Oberschule oder Universität. Schließlich gelte es, die Möglichkeiten auszunutzen, die die Juku-Industrie biete – etwa Rabatte und Stipendien, die gerade für sozial Schwache bestehen.
Gerade solche „Nischen“ habe die Juku-Industrie in den vergangenen Jahren vermehrt entwickelt, erklärt Entrich: „Das ganze System hat sich angepasst, etwa an den demografischen Wandel und an veränderte Bedarfe.“ Das Gros der Schulen wandelt sich zu allgemeinbildenden Jukus. Daneben ist ein deutlicher Trend zur Individualisierung zu beobachten: Statt großen Klassen gibt es individuelle Lehrpläne, dazu Rabatte, Stipendiensysteme für gute und benachteiligte Schüler und Selbstlernräume, in denen Kinder auch nach den Kursen lernen können, ohne dass es mehr kostet. „All das kommt sozial Benachteiligten entgegen.“
Den vergleichenden Blick nach Deutschland hat Entrich überdies nie vernachlässigt. Schon aus „ureigenem“ Forscherinteresse. Einen ähnlichen Stellenwert der Nachhilfe sieht er in Deutschland mittelfristig nicht. Dennoch: „An Japan zeigt sich, was Deutschland erwarten könnte.“ Immerhin gingen etliche Entwicklungen hierzulande – die zunehmende Bedeutung von Rankings oder die Bologna-Reform – in diese Richtung. „Und die halte ich für falsch. Prinzipiell sehe ich das System der ‚Shadow Education‘ kritisch. Nicht die Arbeit, die darin gemacht wird, sondern den Umstand, dass es überhaupt so besteht. Das ist meines Erachtens ein Versäumnis der Politik – die eine Entwicklung zuließ, die sie jetzt trotz aller Reformen nicht mehr in den Griff bekommt. Angesichts dessen täte man in Deutschland gut daran zu überlegen, wie viel Privatisierung im Bildungssektor man zulassen oder gar initiieren will.“
Internationale Daten zum Bildungsstand zeigen, dass in allen erfassten Ländern Kinder und Jugendliche außerschulische Lernangebote wahrnehmen. So wurden auch in den PISA-Studien, in denen die Kompetenzen von 15-Jährigen untersucht wurden, Daten zum Ausmaß der Inanspruchnahme von Unterricht an sogenannten Pauk- bzw. Nachhilfeschulen oder bei privaten Tutoren erfasst. Dabei offenbart PISA erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern. Während 2012 beispielsweise in den skandinavischen Ländern mit Ausnahme Islands kaum mehr als zehn Prozent der 15-jährigen Schüler Nachhilfe oder Paukunterricht erhielten, waren es in Deutschland knapp 40, in Polen und Spanien etwa 50 sowie in Korea und Thailand fast 60 Prozent. Manche Länder, in denen viele Schüler beides besuchen, verzeichnen sogar noch höhere Zahlen – wie Vietnam (79), Malaysia (80) oder Indonesien (84). „Gerade dort, wo das Bildungssystem schlecht ist, werden außerschulische Lernangebote dazu genutzt, diese Defizite auszugleichen“, sagt Steve Entrich. „So nehmen in Griechenland bis zu 90 Prozent eines Jahrgangs Nachhilfe, in der Türkei bereiten sich drei Viertel der Schulabsolventen mit Nachhilfe auf die Universität vor.“
Der Wissenschaftler
Dr. Steve R. Entrich studierte Geschichte und Erziehungswissenschaft in Potsdam sowie Japanische Sprache in Berlin, mit anschließender Promotion im Fach Bildungsforschung in Potsdam und verschiedenen Gastaufenthalten in Tokio und Kyoto. Seit 2013 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialwissenschaftliche Bildungsforschung an der Universität Potsdam. 2017 erhielt er für seine Dissertation den Förderpreis der Universitätsgesellschaft Potsdam e.V.
Universität Potsdam
Strukturbereich Bildungswissenschaften
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E-Mail: entrichuuni-potsdampde
Text: Matthias Zimmermann
Online gestellt: Marieke Bäumer
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuuni-potsdampde
Diesen und weitere Beiträge zur Forschung an der Universität Potsdam finden Sie im Forschungsmagazin „Portal Wissen“.