Die Verantwortung des Sisyphos. Entwicklungen und Perspektiven der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts als deutsch-internationale Transformationsgeschichte
Habilitationsprojekt von Dr. Kai Wambach
2022 jährte sich die Unterzeichnung des Luxemburger Abkommens vom 10. September 1952 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel unter Mitwirkung der Conference on Jewish Material Claims Against Germany zum 70. Mal. Mit Recht gilt es als entscheidender Meilenstein in der Geschichte von Wiedergutmachung und Entschädigung nationalsozialistischen Unrechts. Als Folge und auf Grundlage dieses Abkommens entwickelte sich in den kommenden Jahrzehnten eine fast unübersehbare Fülle verschiedenster gesetzlicher und außergesetzlicher Regelungen auf Bundes- und Landesebene. Auch gegenwärtig ist die Wiedergutmachung ein aktives Politikfeld, das beständige politische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit erfährt. Diese Gegenwart, die Entwicklung und vor allem die Form der Ausentwicklung der Wiedergutmachungspolitik waren weder im September 1952 noch im Verlauf der folgenden Jahrzehnte vorauszusehen gewesen. Im Gegenteil kann als eine der kontinuierlichsten und gleichzeitig am wenigsten zutreffenden Zuschreibungen der Wiedergutmachung von NS-Unrecht die Voraussage ihres baldigen Endes gelten.
Der Umstand des 70. Jahrestages des Abkommens rückte auch mit Blick auf das mittlerweile hohe Lebensalter der Überlebenden gleichwohl die Frage in den Fokus, ob der Zeitpunkt naht, an dem die Wiedergutmachung „irgendwann einmal endgültig Geschichte geworden sein wird“ (Constantin Goschler). Vor dem Hintergrund aktueller transformativer Perspektivverschiebungen und Neuinterpretationen untersucht das Projekt die Genese der
Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts seit 1945 quellengestützt dahingehend, welche Entwicklungslinien und Abläufe der älteren und jüngeren Zeitgeschichte hierzu den Vorlauf bildeten. Wie hat sich die Entwicklung der deutschen Wiedergutmachungspolitik über die Jahrzehnte unter welchen inneren und äußeren Einflüssen herausgebildet und welchen gesellschaftlichen Stellenwert hat sie dabei erreicht. Grundsätzlich soll für die Untersuchung die Wiedergutmachung als Entwicklungsgeschichte be- und aufgegriffen werden, die sich im Spannungsverhältnis von Politik, Gesellschaft, Diplomatie und Verwaltungshandeln in über sieben Jahrzehnten nicht linear, aber kontinuierlich herausbildete. Im Fokus stehen müssen und werden dabei insbesondere die entscheidenden Transformationsdekaden der 1980er und 1990er Jahre, als die Wiedergutmachungspolitik sich in materiell-rechtlicher Hinsicht zuerst endgültig vom gesetzlichen in den außergesetzlichen Bereich verschob, und anschließend – nach dem Fall des Eisernen Vorhangs – auch in den mittel- und osteuropäischen Raum ausweiten konnte. So ist unter breitem Quellenbezug neben der spannenden Frage der Ausentwicklung des Binnenverhältnisses von Bundesregierung und Claims Conference im Zuge der Verlagerung der Auszahlungspraxis von Entschädigungsleistungen über Härtefonds an die Claims Conference vor allem auch die Entwicklung der Wiedergutmachung im Kontext und Nachgang der Wiedervereinigung ganz besonders in den Blick zu nehmen. Hier spielt neben der im Rahmen der Deutschen Einheit entwickelten und bis heute maßgeblichen sogenannten Artikel-2-Vereinbarung und den hiermit einhergehenden regelmäßigen Verhandlungen vor allem auch das gesamtstaatliche deutsche Verhältnis zum jüdischen Staat Israel eine Rolle. Im Verlauf der 1990er Jahre wurden weiterhin verschiedene bilaterale Vereinbarungen zur Opferentschädigung mit Staaten möglich, die bisher hinter dem Eisernen Vorhang und damit von entsprechenden Leistungen ausgeschlossen waren, unter anderem Polen, die baltischen Staaten und Belarus.
Die sich seither entwickelnden Perspektiven der Wiedergutmachung, ihre Wurzeln und Hintergründe und der Grad ihrer künftigen Belastbarkeit und Tragfähigkeit, wenn es keine Überlebenden mehr gibt, sollen schließlich in einer Synthese aus Rück- und Ausblicken behandelt werden.