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Die feinen Unterschiede – Gastwissenschaftlerin Sudha Arunachalam über die Sprachforschung mit Kleinkindern

Die US-Amerikanerin Sudha Arunachalam
Die US-Amerikanerin Sudha Arunachalam
Photo : Thomas Roese
Die US-Amerikanerin Sudha Arunachalam forscht derzeit auf Einladung von Prof. Dr. Barbara Höhle an der Universität Potsdam.
Photo : Thomas Roese
Die US-Amerikanerin Sudha Arunachalam forscht derzeit auf Einladung von Prof. Dr. Barbara Höhle an der Universität Potsdam.

Für ihre Erkenntnisse zum frühkindlichen Spracherwerb wurde die Linguistin Sudha Arunachalam von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung bereits mit dem Friedrich-Wilhelm-Bessel-Forschungspreis ausgezeichnet. Ihre Hypothesen überprüft die US-Amerikanerin, die derzeit als Gastwissenschaftlerin an der Universität Potsdam weilt, auch in Zusammenarbeit mit dem BabyLAB.

Was genau führt sie an die Universität Potsdam?

Der Großteil meiner Arbeit dreht sich um die Frage, wie Kinder die Bedeutung von Wörtern erfassen. Wir wissen, dass Kinder dabei auf bestimmte Strategien und Mechanismen zurückgreifen, abhängig von den Eigenschaften der jeweiligen Sprache. Es ist wichtig, diese Prozesse in verschiedenen Sprachen untersuchen, damit unsere Theorien nicht nur auf einer Sprache, Kultur oder Gesellschaft basieren. Unsere bisherigen Theorien dazu basieren zum Großteil auf Beobachtungen in sogenannten WEIRD-Gesellschaften: westlich geprägten, industrialisierten, reichen und demokratischen Gesellschaften. Doch schaut man auf Gesellschaften, auf die diese Kategorien nicht zutreffen, bekommen wir ein anderes Bild.

Können Sie das an einem Beispiel illustrieren?

Wenn Sie ein Lehrbuch über kindliche Entwicklung aufschlagen, finden Sie zu der Thematik, wie Kinder neue Dinge lernen, mit großer Wahrscheinlichkeit ein Foto, das Eltern beim Spielen mit ihrem Kind zeigt. In weiten Teilen der Erde tun die Erwachsenen so etwas nicht. Die Kinder sind in vielen Gesellschaften einfach da, spielen mit anderen Kindern und haben eine große Gemeinschaft um sich herum. Sie leben vielleicht nomadisch oder verbringen viel Zeit mit Feldarbeit, und die Kinder sind einfach involviert in das, was die Gemeinschaft der Erwachsenen gerade tut, und nicht umgekehrt. Das ist der soziokulturelle Aspekt. Und dann kommt noch die Sprache selbst ins Spiel. Dazu untersuchen wir, wie Kinder speziell Verben lernen, die sie noch nie zuvor gehört haben.

Warum gerade Verben?

Verben sind oft schwieriger zu lernen. Ich kann auf Gegenstände zeigen, aber Tätigkeiten sind meist dynamisch und flüchtig. Trotzdem lernen kleine Kinder schon im Alter von einem oder zwei Jahren solche Verben. Wir vermuten, dass Kinder sich dabei die Satzstruktur zunutze machen, in der das Verb gebraucht wird. Eine Idee, die auf die Sprachwissenschaftlerin Lila Gleitman zurückgeht, eine der Riesinnen, auf deren Schultern die Wissenschaft in diesem Gebiet forscht. Wenn ich etwa wissen will, was „werfen“ bedeutet, ist es hilfreich, dass gleich danach häufig ein „Ball“ erwähnt wird – es scheint also etwas zu sein, das man mit dem Ball machen kann. Auch Bedeutungspaare helfen bei der Entschlüsselung, etwa wenn ich etwas hergebe und das gleichzeitig bedeutet, dass jemand anderes es entgegennimmt. Wir glauben, dass Kinder besonders darauf achten, welche anderen Wörter um das Verb herum gebraucht werden und ihren Bedeutungsgehalt so immer näher eingrenzen.

Wie genau lässt sich das überprüfen?

Wir können Experimente durchführen und Kindern zwei Videos zeigen. Eines zeigt, wie jemand etwas mit einem Objekt macht, und ein anderes zwei Subjekte, die etwas gemeinsam tun. Bei ganz jungen Kindern, die noch nicht zuverlässig auf etwas zeigen können oder wollen, verwenden wir Eye Tracking, im Grunde eine Weiterentwicklung der Preferential-Looking-Methode. Und wenn sie dann einen Satz hören wie „der Junge streichelt den Hund“, dann zeigen oder schauen viele Kleinkinder tatsächlich auf den richtigen Bildschirm. Dazu gibt es zahlreiche Versuche mit Kindern, die Englisch als Muttersprache lernen. Wir vergleichen das nun mit Kindern, die Koreanisch sprechen, sowie mit deutschsprachigen Kindern.

Warum diese beiden Sprachen?

Im Englischen verwenden wir meist Subjekt – Verb – Objekt, im Koreanischen dagegen Subjekt – Objekt – Verb. Die Ergebnisse unserer bisherigen Studien deuten darauf hin, dass es für Kinder in koreanischer Sprache schwieriger ist, die Verben zu begreifen, als im Englischen, wo das Tätigkeitswort mittig im Satz eingebettet ist. Im Koreanischen müssen sie versuchen, das Verb quasi rückwirkend zu diesen zwei Substantiven in Beziehung zu setzen. Für die sprachlichen Kapazitäten von Zweijährigen eine ziemliche Herausforderung. Dieses Experiment führen wir nun mit einer Sprache durch, in der verschiedene Satzstrukturen möglich und geläufig sind. Deutsch ist dafür sehr gut geeignet, hier steht das Verb mal am Anfang, mal in der Mitte oder am Ende.

In welchem Setting finden diese Experimente statt?

Es gibt hier eine ganz tolle Einrichtung: das BabyLAB. Eltern aus der Region kommen dort mit ihren Kindern für eine halbe oder eine Stunde zu Besuch und schauen mit dem Kind ein Video. Die Kinder bekommen für ihre Teilnahme ein kleines Dankeschön. Die Eltern haben oftmals nicht nur das gute Gefühl, zur Wissenschaft beizutragen, sondern lernen auch etwas über ihr Kind und seinen Spracherwerb in diesem Alter.

Begegnen Ihnen verbreitete Mythen, die hinsichtlich der Sprachentwicklung von Kindern immer wieder Konjunktur haben?

Mitunter herrschen starre Vorstellungen vor in Bezug auf das Zeitfenster, in dem Kinder anfangen zu sprechen. In der Realität geht das sehr weit auseinander. Aber eines der traurigsten Missverständnisse, die mir begegnen, betrifft die Mehrsprachigkeit, von der manche Eltern, mitunter auch Ärzte meinen, sie überfordere oder verwirre das Kind in seiner sprachlichen Entwicklung. Eine Befürchtung, die vor allem in monolingualen Gesellschaften zirkuliert. Dabei ist der Großteil der Weltbevölkerung mehrsprachig. Ein ähnliches Problem sind Vorbehalte gegenüber Gebärdensprache, die es – so ein verbreiteter Irrglaube – einem hörgeschädigten Kind verunmögliche, später eine gesprochene Sprache zu lernen. Im Gegenteil: Wer einem gehörlosen Kleinkind ausschließlich mit gesprochener Sprache begegnet, zu der es keinen Zugang hat, nimmt ihm die Möglichkeit, überhaupt eine Sprache zu finden. Eine Erstsprache im späteren Alter zu erlernen, ist dann extrem schwierig und für einige fast unmöglich.

Macht es für das Lernen der Erstsprache einen Unterschied, ob die Muttersprache grammatikalisch komplex oder „schwierig zu erlernen“ ist?

Das ist ein bisschen kontrovers. In der Wissenschaft ist der „Schwierigkeitsgrad“ kein Kriterium, wir können eine Sprache nicht als objektiv schwieriger oder einfacher bezeichnen. Ist eine Sprache in bestimmter Hinsicht kompliziert, so ist sie für gewöhnlich in anderer Hinsicht das genaue Gegenteil. Das hängt mit der Art zusammen, wie wir kommunizieren: Hat eine Sprache eine komplexe Struktur mit vielen Regeln, so lässt sie wenig Raum für Ambiguität. Für Sprecher*innen ist sie zwar schwieriger zu lernen, dafür ist der Inhalt des Gesprochenen für die Adressat*innen umso einfacher zu verstehen. Unterm Strich sind alle Sprachen deshalb mehr oder weniger ähnlich komplex, nur eben auf unterschiedliche Weise.

Sie forschen und publizieren unter anderem zum sogenannten ‚nicht-interaktiven‘ Lernen. Was genau ist damit gemeint?

Wenn die Hypothese stimmt, dass Kinder besonders auf die Satzstruktur achten, in der ein Verb verwendet wird, dann sollte das im Prinzip auch ohne eine soziale Situation funktionieren. Wenn also das Kind sich allein mit etwas beschäftigt, zum Beispiel Bilder ausmalt, und dazu passende Sätze aus einem Lautsprecher hört, müsste sich ein Lerneffekt einstellen. Und wir haben herausgefunden, dass das tatsächlich der Fall ist und auch auf Kinder mit Autismus zutrifft. Als ich damals damit anfing, wusste ich noch nicht viel über Autismus, aber durch diese Forschung haben wir immerhin eine Hypothese dafür, wie Kinder mit Autismus auf ihre ganz eigene Weise eine Sprache lernen.

Also Entwarnung für all jene Eltern, die nicht so viel Zeit mit ihren Kindern verbringen? Immerhin gibt es sprachlichen Input auch aus diversen Endgeräten.

In unseren Experimenten sind die Inhalte sehr limitiert und das, was die Kinder lernen sollen, extrem vereinfacht. Sie müssen es nicht einmal memorieren und später wiederholen oder dergleichen. Für echtes Lernen braucht es jedoch mehr als nur das Hören eines Satzes. Gerade der Fernseher ist hier problematisch, weil hier überhaupt keine Interaktion stattfindet, die das Kind auf irgendeine Weise aktiviert. Meine eigene Biografie ist ein gutes Beispiel: Ich habe zu Hause ständig Tamil gehört und verstehe es ganz gut. Aber ich kann es praktisch kaum sprechen, weil ich es nie gebraucht und geübt habe. Selbst zu sprechen, ist für den Erwerb einer Sprache essenziell, da reicht bloßes Fernsehen nicht aus.

Die Fragen stellte Moritz Jacobi.­


Sudha Arunachalam (44) ist Professorin im Fachbereich Communicative Sciences and Disorders an der New York University (USA). Nach ihrem Bachelor in Linguistik und einem Master in Psychologie erwarb sie ihren Ph.D. in Linguistik. Zusammen mit Wissenschaftler*innen in der ganzen Welt – darunter Prof. Dr. Barbara Höhle von der Uni Potsdam – untersucht sie, wie Kinder andere Sprachen als Englisch erlernen und wie die Interaktion von Erwachsenen und Kindern das Lernverhalten fördern kann.


Für Studierende ist das BabyLAB ein Ort, an dem Sie lernen, wie wissenschaftliche Experimente einerseits valide und reproduzierbar gestaltet werden, andererseits aber auch Flexibilität und ein guter Draht zu Kindern gefragt sind. Für Eltern von Kleinkindern sind der Besuch und die Teilnahme an den spielerischen Experimenten eine ideale Gelegenheit, von Entwicklungspsycholog*innen und Linguisten etwas über die Fähigkeiten und Beschränkungen ihrer Schützlinge zu erfahren.
Anmeldung unter www.uni-potsdam.de/de/babylab/index
Instragram: @babylab_unipotsdam

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Sabine Schwarz