Gurken dürfen krumm sein
„Mein Steckenpferd ist die EU“, ergänzt Prof. Dr. Christian Rauh, der als gemeinsam berufener Professor an der Universität Potsdam und dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) die verschiedenen Ebenen der politischen Systeme analysiert. „Grobe Schätzungen gehen davon aus, dass wir derzeit etwa 40.000 Rechtsakte innerhalb der EU haben, die uns als Bürgerinnen und Bürger direkt betreffen: Was steht auf unseren Nahrungsmitteln drauf? Wie bewirtschaften die Bauern ihre Felder? Oder welche Rechte habe ich als Passagier?“ Den Vorwurf der Überregulierung entkräftet der Wissenschaftler wie folgt: „Grundsätzlich basieren internationale Abkommen auf freiwilligen Vertragslösungen“, so Rauh. „Die Mitgliedstaaten einigen sich auf Ziele, die oft sehr detailliert festgelegt werden, um Transparenz zu schaffen und sicherzustellen, dass alle Beteiligten eine faire Chance haben.“
„Populisten stellen internationale Organisationen gerne infrage“, betont Liese. „Zumal sie die Handlungsautonomie von Nationalstaaten einschränken und dann auch noch Kosten durch Mitgliedsbeiträge verursachen. Dabei haben diese Organisationen den grenzüberschreitenden Austausch von Wissen, Waren und Kulturgütern – die wirtschaftliche Globalisierung – wesentlich vorangebracht.“ An dieser Stelle räumt Christian Rauh mit einem Vorurteil auf. „Es gibt keine EU-Regel, nach der Gurken unbedingt gerade sein müssen. Vielmehr wurden Kategorien für Gurken festgelegt, die der Handel in Europa wollte, um Transport und Verpackung zu vereinfachen“, stellt der Politologe klar. „Jeder kann weiterhin krumme Gurken verkaufen, es ging lediglich um die Erleichterung des grenzüberschreitenden Warenverkehrs.“
„Krumme Gurken waren schon immer unbeliebt“, weiß auch Prof. Dr. Thomas Sommerer, der zu internationalen Organisationen an der Universität Potsdam forscht. „Dabei ist die Produktregulierung einer der wichtigsten Faktoren für den Erfolg des EU-Binnenmarkts“, bilanziert er. Das betreffe auch den Handel über die EU hinaus. „Die Kleinteiligkeit gewährleistet, dass die Regeln auch befolgt werden“, ergänzt Andrea Liese und veranschaulicht das ihren Studierenden anhand „eines Putzplans in der Wohngemeinschaft – da wären flexible Vereinbarungen auch kaum zielführend.“ Wie aber lässt sich messen, ob internationale Organisationen effektiv handeln? „Das ist vielschichtig“, bemerkt Sommerer. Zunächst wird die Organisation als solche in den Blick genommen: „Geht es nur darum, was mächtige Mitglieder auf der Agenda haben, oder steht auch eine Lösung im Fokus? Das ist recht banal“, so der Politologe. „Im zweiten Schritt wird geprüft, ob die gesetzten Regeln eingehalten werden. Also, machen die Staaten überhaupt, was sie vorher selbst vereinbart haben?“ Auf der dritten Stufe rückt die Analyse der Wirksamkeit in den Fokus. „Es gilt, kurzfristige und langfristige Ergebnisse auszuwerten, da der Erfolg nicht immer sofort sichtbar ist.“ Christian Rauh betont: „In der Forschung zur EU ist die erste Stufe entscheidend. Ist die Institution überhaupt in der Lage, gemeinsam zu entscheiden? Wer hat Einfluss? Auf wessen Interessen wird gehört? Diese Fragen beschäftigen mich als Wissenschaftler“, sagt der Potsdamer Politologe.
Vetorecht und Friedensmissionen
Erschwerend kommen verschiedene Einschätzungen hinzu, die den analytischen Blick leicht verstellen können: „Vor allem die Perspektive betroffener Akteure sollte klar dargestellt werden. So könnte Russland die Arbeit des UN-Sicherheitsrates als sehr effektiv bewerten“, führt Thomas Sommerer vor Augen, „weil die Vetomacht machen kann, was sie will. Aus deutscher Perspektive herrscht dagegen Stillstand.“ Andrea Liese verweist darauf, dass die Effektivitätsforschung den gesamten Prozess in den Blick nimmt, um zu bewerten, inwiefern eine Verhaltensänderung auf den „Output einer internationalen Organisation zurückzuführen ist“. So hat die Forschung zum Beispiel herausgefunden, dass Friedensmissionen erst sehr spät in Konflikten unter sehr widrigen Bedingungen eingesetzt werden. „Daher ist der Friede meist fragil und die Ergebnisse liegen weit hinter unseren Erwartungen zurück“, fasst die Politologin zusammen.
Vor allem in der Klimapolitik werfen Kritiker den internationalen Organisationen vor, auf der Stelle zu treten und viel zu lange zu brauchen, um die selbst gesteckten Ziele zu erreichen. „Dahinter steckt ein vielschichtiger Aushandlungsprozess“, erläutert Professor Sommerer. „Der sogenannte Green Deal verknüpft klimapolitische Ziele mit Ausgleichszahlungen. Das geht langsamer, als wir uns das wünschen, aber ohne den Deal würde es umweltpolitisch vermutlich noch viel schlechter aussehen.“ Jeder Staat soll sich in den globalen Verträgen wiederfinden, mitgenommen werden, um Anreize zu einer Lösung zu schaffen. „Hätten wir einfache Mehrheitsentscheidungen im Klimaschutz“, argumentiert der Forscher, „wäre die Folge, dass die Überstimmten alles daran setzen würden, die Umsetzung zu verzögern oder gegen die Wand zu fahren.“ Das führte dann eben zu weniger ambitionierten Verträgen, die aber wenigstens eingehalten würden, ergänzt Andrea Liese. „Wir dürfen nicht vergessen, wie vielschichtig die Interessen sind. Viele Länder und private Akteure verdienen Geld mit Dingen, die dem Klimaschutz nicht zuträglich sind“, argumentiert die Politologin. „Das alles unter einen Hut zu bringen – kurzfristige und langfristige Ziele – das ist einfach sehr, sehr schwierig.“ Die Forschenden regen an, auch mal die Politik der Nationalstaaten zu hinterfragen: Wie erfolgreich waren die nationalen Corona-Maßnahmen? Stellt sich das Bürgergeld als effektives Instrument heraus? „Auch hier könnte die Wissenschaft analysieren, wie es mit der Effektivität bestellt ist. Doch das tragen meist die politischen Parteien untereinander aus“, bedauert Professor Sommerer. „Wissenschaftliche Erkenntnisse spielen selten eine Rolle.“
Zukunft der internationalen Beziehungen
Grundsätzlich hält sich in der Politikwissenschaft die These, dass die internationalen Kooperationen insgesamt stagnieren. „Seit zehn bis 15 Jahren wurde keine neue internationale Organisation gegründet“, sagt Sommerer. Kollegin Liese sieht hier eine „gewisse Nostalgie“ aus den 1990er Jahren. „Nach der Wiedervereinigung, am Ende des Ost-West-Konflikts, im Wachstum der EU, fanden alle Multilaterismus gut. Das klang irgendwie leicht und positiv.“ Doch das Narrativ habe sich geändert, auch weil die USA unter Donald Trump vorgemacht hätten, dass eine starke Abkehr von der Welthandelsorganisation (WTO) möglich ist. „Dazu kommt, dass der globale Süden in den Fokus rückt“, führt Liese aus, „der seine Interessen sehr wohl in internationalen Foren und Organisationen durchsetzen will. Insofern müssen Interessen-Divergenzen und die Fragmentierung der Macht zur Bewertung insgesamt mit herangezogen werden“, betont die Wissenschaftlerin. „Und noch etwas kommt hinzu“, ergänzt Christian Rauh, „neben den Staaten ist die Öffentlichkeit ein zunehmend relevanter Akteur in der internationalen Politik. Trump ist da wohl eines der besten Beispiele neben Viktor Orbán für die EU. Beide zeigen, wie sie aus innenpolitischen Gründen gegen internationale Zusammenarbeit agieren, um sich zuhause zu profilieren.“ Es spielt also zunehmend eine Rolle, was die Öffentlichkeit über globale Krisen denkt, die von außen kommen und gleichermaßen mehrere Staaten betreffen wie der russische Angriffskrieg in der Ukraine. „So ist dann auch nachvollziehbar, dass sich die EU-Mitgliedsstaaten sehr schnell auf Sanktionen einigen konnten – für die es gar keine Vertragsgrundlage gab.“
Professorin Liese wünscht sich insgesamt mehr Aufmerksamkeit für die Forschung zu internationalen Organisationen. „Ich würde mich schon freuen, wenn wir der Kritik an internationalen Abkommen etwas entgegensetzen könnten.“ Das bedeutet auch, den Druck gegenüber Staaten zu erhöhen, die bestimmte Organisationen nicht mehr finanziell unterstützen wollen. Ihr Kollege Christian Rauh wünscht sich eine bessere Kommunikation von internationalen Organisationen. „Es geht heutzutage viel mehr darum, auch die Öffentlichkeit mitzunehmen und davon zu überzeugen, dass bestimmte Maßnahmen richtig sind“, erläutert er. „Weniger abstrakt zu kommunizieren und stattdessen mehr konkret zu erklären“, lautet seine Empfehlung. Thomas Sommerer knüpft an die zentrale Frage nach der Effektivität von internationalen Organisationen an. „Wenn wir wissenschaftlich zeigen können, was gut und effektiv funktioniert und warum –“, bringt er es auf den Punkt, „dann leisten wir auch einen relevanten Beitrag und beeinflussen den öffentlichen Diskurs.“
Christian Rauh ist seit 2023 Professor für Politik im Mehrebenensystem an der Universität Potsdam als gemeinsame Berufung mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).
„Für mich ganz persönlich bedeutet Europa, dass ich mich einfach und ohne darüber nachzudenken über Ländergrenzen hinweg bewegen und austauschen kann. Aber bei Europa denke ich auch an die Konflikte und die Komplexität gemeinsamer (oder weniger gemeinsamer) politischer Entscheidungen.“ - Prof. Dr. Christian Rauh
Andrea Liese war seit 2010 Professorin für Internationale Organisationen und Politikfelder an der Universität Potsdam. Seit 2020 ist sie hier Professorin für Internationale Beziehungen.
„Mit Europa verbinde ich seit Langem einen Raum kultureller und gesellschaftlicher Vielfalt, Freiheit und Rechtstaatlichkeit – dieses Bild wird aber zunehmend überschattet von der Scham und Sorge über Ausgrenzung und Ausbeutung anderer.“ - Prof. Dr. Andrea Liese
Thomas Sommerer ist seit 2020 Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt internationale Organisationen an der Universität Potsdam.
„Europa ist für mich die Zuversicht, dass Staaten – und ihre Bürger – trotz historischer Konflikte, kultureller Barrieren und sprachlicher Gräben erkennen können, dass sie von friedlicher Zusammenarbeit profitieren – selbst wenn es einen langen Weg zu einem kleinen gemeinsamen Nenner bedeutet. Persönlich heißt es auch: (fast) ohne Hürden jenseits des eigenen sprachlichen und kulturellen Horizonts studieren, arbeiten und leben zu können.“ - Prof. Dr. Thomas Sommerer
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2024 „Europa“ (PDF).