Das Kalkpflanzenrätsel
Pflanze des Monats April 2012
Die Frühlings-Platterbse
Die Farbpalette ist sensationell: zweitönig purpurrot-violett und im Abblühen noch grünlichblau, eine im Pflanzenreich sehr seltene Farbe. Kräftige Exemplare der Frühlings-Platterbse (Lathyrus vernus), von der hier die Rede ist, können mehrere Dutzend blühende Stängel treiben, jeder mit 10 oder mehr Blüten - ein prächtiges Feuerwerk.
Die Frühlings-Platterbse ist eine einheimische Waldpflanze und streng an kalkhaltige Böden gebunden. In Brandenburg kommt sie daher hauptsächlich in den Buchenwäldern der Uckermark vor. Hier ist sie ein Element der Blütenexplosion im Frühjahr, zusammen mit weißen und gelben Windröschen, Lungenkraut, Leberblümchen und etlichen weiteren Arten, die alle in der kurzen Spanne vor der Vollbelaubung der Bäume blühen. Solche Arten fehlen dagegen in den bodensauren Wäldern der "Märkischen Streusandbüchse", hier gibt es keinen solchen Frühlings-Blühaspekt. Ein vergleichender Spaziergang durch den Park Sanssouci mit seinen jetzt reichblühenden Waldstücken und den viel blütenärmeren Wildpark verdeutlicht diesen Unterschied (auch wenn echte Kalkzeiger wie die Frühlings-Platterbse in Sanssouci fehlen). Die naheliegende Schlussfolgerung, die reichblühenden Kalkbodenwälder seien auch generell artenreicher als die Sauerhumuswälder, ist vollkommen zutreffend. Aber warum ist das so?
Das Argument, auf Kalkböden sei die Nährstoffversorgung insgesamt besser, ist zwar richtig, führt aber in die Irre. Eine bessere Nährstoffversorgung befördert nicht unbedingt den Reichtum an Pflanzenarten; ein besonders hohes Nährstoffangebot führt über Konkurrenzmechanismen sogar zu deutlich geringerer Vielfalt. Auf Kalkböden wachsende Pflanzen müssen außerdem mit besonderen Schwierigkeiten der Nährstoffversorgung zurechtkommen. Phosphor, Eisen und einige Spurenelemente sind zwar an sich meist ausreichend vorhanden, aber in schwerlöslichen Verbindungen festgelegt. Die Kalkbodenbewohner lösen das Problem durch Säureausscheidungen der Wurzeln, wodurch diese Stoffe erst in Lösung gehen und so verfügbar werden. Verwandte Probleme gibt es auch für Pflanzen auf kalkfreien, sehr sauren Böden. Hier ist Aluminium im Boden gelöst vorhanden, der in dieser Form für die Wurzeln vieler Pflanzen giftig wirkt - auch für die der Frühlings-Platterbse, wie eine schwedische Studie vor einiger Zeit nachwies.
In beiden Extremen des Bodenchemismus sind also spezielle Anpassungen nötig. Dennoch findet man viel mehr Pflanzenarten auf Kalkböden als auf sehr sauren Untergründen. Möglicherweise ist dieser Unterschied ein Spiegel der Vorgeschichte, wie eine Studie von J. Ewald, Botanik-Professor an der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf, nahelegt. Die meisten heutigen Wildpflanzen Mitteleuropas überlebten das Eiszeitalter in verhältnismäßig kleinen Rückzugsgebieten im südlichen Europa. Dort sind aber Kalkgesteine vorherrschend, während in Mitteleuropa saure Untergründe häufiger sind. Demnach wären zahlreiche Arten, die auf sauren Böden vorkommen, in Ermangelung erreichbarer Refugien während der Vereisungen in Europa ausgestorben, während die Kalkbodenpflanzen überlebten.
Im Unterschied zur Natur gedeiht die Frühlings-Platterbse im Garten auch ohne Kalk, wenn nur der Boden nicht zu sauer ist. Hier verträgt sie viel Schatten und schmückt sich jedes Frühjahr wieder mit ihrer schillernden Blütenpracht. Im Laubwald des Botanischen Gartens steht sie jetzt in voller Blüte.