Botanik und Realsozialismus in Potsdam
Wolfgang Müller-Stoll und die Steppen-Segge
Wolfgang Müller-Stoll kam 1949 nach Potsdam an die gerade gegründete Brandenburgische Landeshochschule. Voller Energie begann der frischgebackene Professor, ein botanisches Institut und einen Botanischen Garten aufzubauen. Bereits 1953 wurde er Prorektor für Forschung (der heutige Titel wäre Vizepräsident). Diese einflussreiche Stellung in der mittlerweile zur Pädagogischen Hochschule umgewidmeten Einrichtung nutzte er zur Gründung einer wissenschaftlichen Hauszeitschrift sowie dafür, seine auf zahlreichen Gebieten begonnenen Forschungsvorhaben voranzutreiben. Er war Experte für so verschiedene Fachrichtungen wie Holzfossilien, Ökophysiologie und Pflanzenvergesellschaftung und kompetent in etlichen weiteren Sparten der Botanik.
Wie sich zeigte, hatte er auch besonderes Geschick für die Einbindung junger, talentierter Leute, die er oft aus seinen Studierenden rekrutierte. So konnte er die extreme fachliche Breite seiner Forschung aufrechterhalten. Fachkontakte pflegte er in der damals noch regelmäßig in Berlin-Dahlem tagenden „Deutschen Botanischen Gesellschaft“ und im „Botanischen Verein der Provinz Brandenburg“.
Eine Idee von Botanikern vor dem Krieg wurde wieder aufgegriffen, nämlich Typen von Verbreitungsbildern der heimischen Pflanzen zu erfassen und zu verstehen. Zusammen mit einem Mitarbeiter und unter Einbindung von rund 100 Botanikerinnen und Botanikern in der Region begann Müller-Stoll mit der Kartierung sogenannter „Leitpflanzen“, also solchen, die besonders markante Verbreitungsschwerpunkte besitzen. Die Ergebnisse wurden in vier Fachartikeln in der „Wissenschaftlichen Zeitschrift der Pädagogischen Hochschule Potsdam“ veröffentlicht.
Die Verbreitungskarte der Steppen-Segge (Carex supina) erschien zusammen mit 20 weiteren Arten im dritten dieser Artikel 1960. Das kleine Gras kommt an den Oderhängen, auf den Höhen entlang der Havel von Berlin bis Havelberg und an der mittleren Elbe und unteren Saale vor, meist in Trockenrasen auf basenreichen Böden. Weiter südwestlich in Deutschland gibt es noch einzelne Vorkommen in Gebieten mit kontinental getöntem Klima, während nach Osten das Areal bis weit nach Zentralasien reicht. Die maximal zwanzig Zentimeter hohe, unscheinbare Pflanze ist an ihrem dreikantigen Stängel als Sauergras zu erkennen und am rasigen, nicht horstigen Wuchs sowie dem rötlich gefärbten Stängelgrund von anderen, ähnlichen Arten zu unterscheiden.
Gegen den Bau der Berliner Mauer im August 1961 protestierte Müller-Stoll öffentlich, weil sie sein wissenschaftliches Netzwerk völlig zerschnitt. In der Konsequenz wurde er aus der Hochschule entfernt. Als 1962 der vierte Beitrag der „Leitpflanzen“-Reihe erschien, fand er sich bereits in einem Forschungsinstitut ohne Kontakt zu Studierenden wieder, wo er bis zu seinem Ruhestand 1970 blieb.
Wolfgang Müller-Stoll starb am 16. April 1994 in Potsdam, wenige Tage vor seinem 85. Geburtstag. 1991 hatte ihn die inzwischen zur Universität Potsdam gewandelte Hochschule in einem Ehrenkolloquium rehabilitiert. Die brandenburgische Landesregierung bestätigte die Rehabilitation 1996.