Von der Geburt bis zur Adoleszenz: Was zeichnet die Kindheit aus?
Birgit Elsner: Es ist eine Zeit, in der ein Mensch sehr viele Erfahrungen macht und auf verschiedenen Ebenen Fähigkeiten erwirbt. Das betrifft den Bewegungsapparat ebenso wie die mentale Entwicklung. Kinder lernen über das Ausprobieren und Tun. Sie müssen manche Dinge sehr oft erleben, um Routinen zu entwickeln und Abläufe zu verinnerlichen. Ihre motorischen, sozialen und kognitiven Fähigkeiten schulen sie über viele Jahre hinweg.
Nina Kolleck: Die Kindheit ist eine prägende Lebensphase, in der sich grundlegende Fähigkeiten, Selbstbild und Weltverständnis entwickeln. Sie zeichnet sich aus durch Neugier, Entdeckungsdrang und die Freude am Spiel – all das sind essenzielle Elemente für eine gesunde Entwicklung. Oft wird Kindheit jedoch zu stark aus einer schulzentrierten Perspektive betrachtet, in der vor allem Wissen und Fertigkeiten vermittelt werden, die für das Erwachsenenleben als relevant erachtet werden. Dabei gerät aus dem Blick, dass Kinder nicht nur durch formales Lernen wachsen, sondern vor allem durch selbstständiges Erkunden und Experimentieren wichtige Entwicklungsimpulse erhalten. Gerade dieses freie Entdecken stärkt nicht nur kognitive Fähigkeiten, sondern auch die psychische Gesundheit. Es fördert Unbeschwertheit, Selbstvertrauen und Resilienz – Eigenschaften, die Kinder ein Leben lang begleiten. Zudem haben sie ein fundamentales Bedürfnis nach Geborgenheit und stabilen sozialen Bindungen zu verlässlichen Bezugspersonen.
Elsner: Für die sozioemotionale Entwicklung ist der Aufbau von sicheren Beziehungen auch zu Gleichaltrigen, zu Geschwistern und anderen Personen, die das Kind betreuen, sehr wichtig. Wenn man der Bindungstheorie glaubt, legen die Beziehungen, die man in der Kindheit eingeht, die Grundlagen fürs ganze Leben. Die Bezugspersonen unterstützen das Kind im besten Fall seinen individuellen Anlagen entsprechend, seinen Entdeckungsdrang auszuleben und sich seinen Entwicklungsaufgaben zu stellen.
Die Reformpädagogin Maria Montessori hat einmal gesagt: „Das Spiel ist die Arbeit des Kindes“. Welche Bedeutung hat es aus Ihrer Sicht?
Elsner: Eine ganz erhebliche. Je jünger ein Kind ist, desto schwieriger ist es zu sagen, wann es spielt und wann nicht. Im ersten Jahr geht es ums sensomotorische Spiel: Wenn sie nicht schlafen oder essen, dann nehmen Babys ihre Umgebung wahr und lernen, ihren Körper zu steuern, und zwar spielerisch. Im Kita-Alter erkunden sie mit allem, was sie tun, ihre Umwelt. Kleinkinder unterscheiden zunehmend zwischen dem Spiel und dem „ernsteren Leben“. Dieser Wechsel des Realitätsbezugs ermöglicht ihnen, in fremde Rollen zu schlüpfen: Was passiert, wenn ich die Person bin, die bestimmt, und nicht die, über die bestimmt wird? So üben sie, die Perspektive eines anderen einzunehmen: Sie erkennen, dass andere Menschen eigene Gefühle, Bedürfnisse und Gedanken haben. Das ist eine wichtige Fähigkeit für das soziale Zusammenleben, um Konflikte auszuhandeln und Freundschaften zu beginnen. Das Spiel ist auch mit seinen Ritualen, den Regeln und Wiederholungen wichtig, weswegen Kinder oft nicht genug davon bekommen können. Das Ritual bietet ihnen einen Rahmen, um Neues zu erproben und gibt gleichzeitig Sicherheit.
Wenn ihnen etwas Spaß macht, scheinen Kinder tatsächlich ganz in der Aktivität versunken. Sie zu unterbrechen, um beispielsweise einen Termin wahrzunehmen, ist dann manchmal fast unmöglich. Wie ist es um das Zeitgefühl von Kindern bestellt?
Kolleck: Der Zeitbegriff ist eher unklar bei Kindern. Entwicklungssprünge können Eltern auch über das veränderte Zeitgefühl erkennen, das sich im Laufe der Jahre stark verändert. Kleine Kinder sind noch sehr im Moment verhaftet. Für sie ist es schwer einzuschätzen, wie lange eine Stunde ist, was „morgen“, „bald“ und „später“ ist. Deswegen sind Routinen so wichtig, also eine bestimmte Abfolge etwa beim Schlafengehen – vom Zähneputzen übers Vorlesen bis zum Gute-Nacht-Lied. Vier- bis Sechsjährige können sich dann schon gut merken, dass wir ihnen gestern einen Film versprochen haben und erinnern uns auch gerne daran. Grundschulkinder beginnen sich für Uhrzeiten und Kalender zu interessieren, ein abstraktes Zeitverständnis entwickelt sich aber erst bis zum Jugendalter. Für Kinder wie auch für Erwachsene bleibt die Zeitwahrnehmung zugleich etwas Subjektives: Bestimmte Ereignisse erscheinen ewig lang und andere sind viel zu schnell vorüber.
Die Kleinen sind fast den ganzen Tag in Bewegung. Sie fallen hin und stehen wieder auf, sie sind ziemlich beweglich und haben scheinbar unerschöpfliche Kräfte. Sind sie fitter als Erwachsene?
Kolleck: Ja und nein. Kinder haben tatsächlich einen höheren Stoffwechsel als Erwachsene. Sie „verbrennen“ Energie schneller und erholen sich oft in kürzester Zeit. Das gibt ihnen diesen scheinbar endlosen Bewegungsdrang. Aber wenn sie wirklich erschöpft sind, brauchen sie sofort eine Pause – während wir Erwachsenen uns oft noch eine ganze Weile weiterschleppen können. Ihr Energielevel hängt aber auch stark von der Motivation ab. Ein Spaziergang ist für viele zum Beispiel total langweilig. Sie wollen nicht weiterlaufen. Aber sobald ein Spielplatz in Sicht ist, haben sie plötzlich wieder Energie und rennen los. Ein weiterer Punkt: Kinder haben weniger langfristige Sorgen als Erwachsene. Sie leben mehr im Moment und tragen weniger Verantwortung, was ihre mentale Belastung reduziert. Aber das heißt nicht, dass sie keinen Stress haben – gerade auch Konflikte mit Freunden können ihnen enorm zusetzen.
Elsner: Auch das Gehirn braucht im Kindesalter unglaublich viel Nahrung. Ständig bilden sich neue Nervenverknüpfungen, damit Informationen schneller übertragen werden können.
Apropos Wachstum: Welche Schritte durchlaufen Kinder in ihrer Entwicklung?
Elsner: In den ersten zwei Jahren sehen wir viele motorische Meilensteine: Die Kleinen lernen, sich vom Bauch auf den Rücken zu drehen, eigenständig zu sitzen, alleine zu gehen, Treppen zu steigen, auf Zehenspitzen zu gehen und auf der Stelle zu hüpfen. Im Kita-Alter sind die Meilensteine nicht mehr ganz so auffällig, gerade in der Feinmotorik: Sie üben, das Essbesteck zu benutzen, einen Stift zu halten und Knöpfe zu schließen. Auch in der geistigen Entwicklung gibt es solche Meilensteine: Etwa am Ende des zweiten Lebensjahrs entwickeln Kinder ein neues Verständnis von sich selbst und ihrem Verhalten. Sie entwickeln auf sich selbst bezogene Emotionen wie Stolz, Scham oder Schuldgefühle und damit auch die Basis für so etwas wie ein moralisches Verständnis. Dadurch sind sie zunehmend in der Lage, Erziehungsanforderungen zu folgen. Entsprechend beginnen Eltern, stärker erzieherisch auf sie einzuwirken. Im Kita-Alter lernen sie auch, sich selbst zu regulieren und die eigenen Bedürfnisse für eine gewisse Zeit zurückstellen.
Woran kann es liegen, wenn wichtige Schritte nicht gelingen?
Kolleck: Die Entwicklung eines Kindes ist von vielen Faktoren geprägt, darunter genetische Veranlagungen, neurologische Prozesse und Umwelteinflüsse. Nicht alle Kinder durchlaufen Entwicklungsschritte im gleichen Tempo oder auf die gleiche Weise – es gibt eine große individuelle Variabilität. Kinder mit neurodivergenten Entwicklungsprofilen, etwa aus dem Autismus-Spektrum, erwerben bestimmte Fähigkeiten anders oder in einem anderen Zeitfenster als neurotypische Kinder. Selbst innerhalb einer Familie sind die Unterschiede groß: Während ein Kind früh spricht, aber später laufen lernt, kann es bei Geschwistern genau umgekehrt sein. Eine verlässliche und feinfühlige Bezugsperson unterstützt Kinder dabei, ein stabiles Urvertrauen in ihre Umwelt zu entwickeln. Unsichere oder unvorhersehbare Bezugspersonen können dagegen Stress erzeugen, der sich auf die gesamte Entwicklung auswirkt – auch auf motorische, sprachliche oder soziale Fähigkeiten.
Daher ist es essenziell, den frühkindlichen Bereich nicht nur als Betreuungsfrage für berufstätige Eltern zu betrachten, sondern als wichtiges Element für die kindliche Entwicklung. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass frühzeitige Förderung in qualitativ hochwertigen Betreuungseinrichtungen die Chancengerechtigkeit verbessern kann – besonders für Kinder, die zu Hause nicht die gleiche Unterstützung erhalten.
Unter Eltern ein heißes Eisen: Wie können Väter und Mütter ihre Kinder gut aufs Leben vorbereiten?
Elsner: Für Eltern ist es heute oft schwierig, auf ihre Intuition zu vertrauen. Und Erziehung funktioniert nicht für alle Eltern gleich. Ratgeber können Tipps bieten, aber ob diese zu jeder Familie passen, steht auf einem anderen Blatt. Die entwicklungspsychologische Forschung zeigt, dass eine liebevoll-zugewandte Erziehung wichtig ist, also dass Eltern emotional warm und zugänglich sind. Gleichzeitig sollten sie Strukturen setzen, diese möglichst einhalten und ans Alter der Kinder anpassen. Kinder, die in der Lage sind, sich an Regeln zu halten, können sich auch gut regulieren. Das greift ineinander. Zudem wissen wir meist ziemlich genau, welches Verhalten wir beim Kind nicht sehen wollen, aber sagen ihm nicht, welches Verhalten wir wünschenswert finden. Gerade jüngere Kinder brauchen hier Anleitung. Wir sollten sie loben, wenn sie etwas gut machen, aber sie gleichzeitig nicht für alles rühmen. Lob und Kritik sollten sich die Waage halten.
Kolleck: Ich kann das nur unterstreichen: Eltern stehen heute unter hohem Druck, alles richtig zu machen. Erziehungsratgeber boomen, doch oft sind die Ratschläge widersprüchlich. Dabei zeigen zahlreiche Studien, dass es nicht auf einzelne Methoden ankommt, sondern auf grundlegende Prinzipien: Kinder brauchen eine verlässliche, liebevolle Bindung, wollen ernst genommen werden, Aufmerksamkeit erhalten und sich sicher fühlen. Gleichzeitig sollten Eltern sich bewusstmachen, dass niemand perfekt ist. Es ist völlig normal, mal ungeduldig zu sein – und genau das kann man dem Kind auch offen sagen. Ein authentischer Umgang mit Fehlern hilft Kindern, diese als normalen Teil des Lebens zu begreifen und einen konstruktiven Umgang damit zu lernen.
Zudem beobachte ich eine Verschiebung der elterlichen Vorsicht. Einerseits gibt es eine wachsende Sorge um physische Risiken – Kinder klettern seltener auf Bäume oder spielen unbeaufsichtigt, weil Eltern mögliche Verletzungen fürchten. Dabei zeigen Studien, dass genau solche körperlichen Erfahrungen wichtig sind, um ein gutes Körpergefühl zu entwickeln, Risiken realistisch einzuschätzen und Resilienz aufzubauen. Andererseits gibt es einen gegensätzlichen Trend im Umgang mit digitalen Medien. Viele Kinder konsumieren Inhalte auf Plattformen wie YouTube oder TikTok, die nicht altersgerecht sind. Früher, intensiver Medienkonsum kann die Aufmerksamkeitsspanne, die soziale Interaktion und die emotionale Regulation beeinflussen. Die American Academy of Pediatrics empfiehlt, dass Kinder unter zwei Jahren möglichst keine Bildschirmzeit haben sollten, da direkter zwischenmenschlicher Austausch für ihre Entwicklung essenziell ist. Zwar gibt es noch keine Langzeitstudien zu den Auswirkungen digitaler Medien auf Kinder, doch erste Ergebnisse zeigen, dass übermäßiger Konsum negative Effekte haben kann.
Eltern stehen also vor der Herausforderung, eine ausgewogene Herangehensweise zu finden: Ein gesundes Maß an Selbstständigkeit, kombiniert mit klaren, altersgerechten Regeln für den Medienkonsum, kann Kindern helfen.
Elsner: Heute wird oft zu wenig oder zu viel gefördert. Eltern fragen mich immer wieder, wie sie ihr Kind optimal fördern können, und dabei ist der Anspruch oft sehr hoch. Das kann dazu führen, dass zum Beispiel musische oder sportliche Talente aus den Kleinen herausgekitzelt werden sollen, was letztlich zur Überforderung führen kann. Wir haben einen riesigen Markt an Angeboten, aber ich frage mich, ob es nicht besser für die Kinder wäre, mit ihren Eltern rauszufahren und die Natur zu erkunden. Es braucht mehr, als ein Kind in einem Kurs abzugeben. Die Kunst der Eltern ist es, eine gute Bindung zu ihrem Kind aufzubauen, seine Bedürfnisse zu erkennen und optimal darauf zu reagieren. Und Anregungen für das Kind schaffen, wie zum Beispiel die Montessori-Pädagogik es vormacht: die Umgebung so gestalten, dass die Kleinen sie explorieren können, und so Impulse für altersgemäße Lernprozesse zu geben.
Das liebste Kleidungsstück ist in der Wäsche oder die Croissants sind ausverkauft: Situationen wie diese sind von vielen Eltern gefürchtet, schließlich können sie heftige Wutanfälle auslösen. Wie erleben Kinder ihre Gefühle und wann lernen sie, angemessen mit ihnen umzugehen?
Elsner: Je kleiner Kinder sind, desto mehr Hilfe von außen brauchen sie, um ihr Verhalten, ihre Emotionen und ihren Erregungszustand zu regulieren. Selbstregulation heißt, das eigene Erregungsniveau auf einen angenehmen Zustand zu bringen: also nicht zu aufgeregt und nicht zu wenig angeregt zu sein. Wie dieser angenehme Zustand aussieht, darin unterscheiden sich Menschen, auch wir Erwachsenen. Bereits Babys schließen die Augen und wenden den Kopf ab, wenn sie Ruhe suchen. Wir alle haben solche Strategien. Aber Babys, die quengeln oder schreien, brauchen Unterstützung: Nehmen wir sie auf den Arm, bieten wir ihnen externe Regulationshilfen. Bis ins Grundschulalter benötigen Kinder Hilfe von außen, um ihre Gefühle in den Griff zu bekommen – gelingt das nicht, steigern sie sich in Erregungszustände hinein. Bei Trotzverhalten oder Wutanfällen sind deshalb Rückzugsmöglichkeiten wichtig: Die Bezugspersonen sollten Kindern die Möglichkeit geben, sich zu beruhigen, um danach zu besprechen, was los war und was dem Kind in Zukunft helfen könnte.
Kolleck: Kinder dürfen auch mal laut sein und ihre Wut zeigen, das ist etwas Gutes. Wir sollten nicht nur ihre positiven, sondern auch die negativen Gefühle zulassen und ihnen Raum dafür geben.
Birgit Elsner ist seit 2008 Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Potsdam.
Nina Kolleck ist seit 2023 Professorin für Erziehungs- und Sozialisationstheorie an der Universität Potsdam.
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2025 „Kinder“.