„Der Weltraum, unendliche Weiten“, versprach schon das Raumschiff-Enterprise-Intro. Weit verstreut Galaxien mit Sternen und Planeten. Dazwischen: viel nichts. Oder doch nicht? „Der Raum zwischen den Sternen ist recht lebhaft“, sagt Peter Saalfrank. Angesichts der dortigen Bedingungen – Dunkelheit, Temperaturen hinunter bis zu 10 Kelvin (-263 Grad Celsius!) und wenig Materie – hat sich das Nichts im interstellaren Raum in den vergangenen Jahrzehnten als überraschend vielfältig herausgestellt. „Man dachte lange, dass unter diesen unwirtlichen Bedingungen nur sehr wenig existiert – und passiert“, erklärt der Chemiker. Aber schon in den 1940er Jahren wurden die ersten Moleküle entdeckt. Wasserstoff, Kohlenmonoxid, Wasser, Methan. Möglich wurde dies durch die Infrarotspektroskopie, also die Analyse der Strahlung, die Moleküle absorbieren oder aussenden. Da Moleküle in eigenen Frequenzen schwingen, ist die für sie charakteristische Infrarotstrahlung unterschiedlich und so lassen sich spezifische Moleküle anhand ihrer Infrarotsignatur – wie mit einem Fingerabdruck – identifizieren. In den 1960er Jahren kamen dann organische, also auf Kohlenstoff basierende Moleküle hinzu – Formaldehyd zählt, wie man heute weiß, zu den häufigsten organischen Molekülen im Weltall. Und 2009 wurde im Staub eines Kometen erstmals ein Biomolekül nachgewiesen – Glycin, eine Aminosäure, die zu den Bausteinen des Lebens gehört. Die Fachwelt jubelte, nicht wenige vermuten seitdem den Ursprung auch des irdischen Lebens im All. „Soweit würde ich nicht gehen“, sagt Peter Saalfrank. „Aber die Funde zeigen: Auch Biomoleküle sind im Weltall vorhanden.“ Offen ist die Frage, wie das sein kann. Wie können hochkomplexe Moleküle in einer solchen Umgebung entstehen?
Diese Frage wollen die Forschenden beantworten, die sich im Projekt IRASTRO zusammengetan haben: Alec Wodtke, Direktor am Göttinger Max-Planck-Institut (MPI) für Multidisziplinäre Naturwissenschaften, Liv Hornekær von der Universität Aarhus (Dänemark), Peter Saalfrank von der Universität Potsdam und Varun Verma vom National Institute for Standards and Technology (NIST, USA). Gemeinsam wollen die vier Methoden entwickeln, mit denen sich Infrarotsignaturen einzelner Moleküle erfassen lassen. Damit könnten Daten von Weltraumteleskopen wie dem James Webb Teleskop, besser analysiert werden. James Webb liefert seit Kurzem Infrarotspektren auch von Eispartikeln in interstellaren Wolken, in denen organische Moleküle zu finden sind. Ihr Infrarotspektrum gilt es zu entschlüsseln, um die Moleküle in ihrem Inneren oder an deren Oberfläche zu identifizieren. Doch die Forschenden wollen mehr: Ihnen geht es auch darum zu verstehen, wie chemische Reaktionen unter interstellaren Bedingungen ablaufen (können), so dass auch komplexe Moleküle entstehen. Dabei konzentrieren sie sich auf Oberflächenreaktionen auf winzigen Staub- oder Eisteilchen, wie sie in interstellaren Wolken vorkommen.
Alle im Team haben eine bestimmte Aufgabe: In Göttingen wird spektroskopisch analysiert, wie Moleküle auf Oberflächen reagieren. Der Partner in den USA entwickelt dafür spezielle supraleitende Detektoren, um einzelne Moleküle infrarotspektroskopisch zu untersuchen. In Aarhus wiederum wird experimentell die Umgebung des Weltalls im Labor nachgebildet, um das Geheimnis zu lüften, wie in (fast) absoluter Kälte und Dunkelheit komplexe Moleküle entstehen können. Und genau da kommt die Expertise der theoretischen Chemie ins Spiel: „Unsere theoretischen Modelle helfen, die experimentellen Ergebnisse zu interpretieren und Vorhersagen über Reaktionswege zu treffen“, erklärt Peter Saalfrank.
Aber was genau macht die theoretische Chemie eigentlich? „Wir entwickeln nicht-experimentelle Methoden zur Beschreibung und Vorhersage chemischer Phänomene“, sagt der Forscher. Dabei stützen sie sich auf mathematische Verfahren und physikalische Theorien – insbesondere solche, die im Bereich der Atome und Moleküle arbeiten, wo klassische Mechanik oft versagt.
Historisch begann die Disziplin mit der Beschreibung chemischer Bindungen. „Heute können wir dank leistungsfähiger Computerprogramme Moleküle und Materialien detailliert analysieren“, so Saalfrank. „Das Feld ist eng mit der Computerchemie verflochten, wo Programme entwickelt und angewandt werden, um die Eigenschaften von Molekülen zu erklären.“ Viele Phänomene wurden erstmals durch die theoretische Chemie vorhergesagt und später experimentell bestätigt. Auch der Nobelpreis für Chemie 2024, der anteilig für die Entwicklung von AlphaFold verliehen wurde – ein KI-gestütztes System zur Vorhersage von Proteinstrukturen – hat seine Wurzeln in theoretisch-chemischen Methoden.
Saalfranks Steckenpferd ist die Quantendynamik, mit der er und seine Potsdamer Arbeitsgruppe chemische Reaktionen beschreiben. „Besonders bei niedrigen Temperaturen oder hochspezifischen Prozessen kommen klassische Methoden an ihre Grenzen. Hier spielt die Quantenmechanik eine zentrale Rolle.“ Sie schaut auch auf die Ebene einzelner Moleküle und ist in der Lage, Prozesse zu erklären, die lange als unerklärbar galten. Wie den Tunneleffekt. Dieser beschreibt ein quantenmechanisches Phänomen, bei dem kleinste Teilchen, etwa Elektronen oder sogar Atome oder Atomgruppen, eine Barriere einfach durchqueren, auch wenn ihnen eigentlich die Energie dafür fehlt. Anstatt den Berg zu überqueren, nutzen sie gewissermaßen einen Tunnel. So lassen sich Reaktionen erklären – und experimentell rekonstruieren –, die eigentlich viel Energie benötigen, die beispielsweise bei niedrigen Temperaturen gar nicht zur Verfügung steht. Wie im Weltraum. „Wir glauben, dass dieser Tunneleffekt in der Astrochemie eine ganz entscheidende Rolle spielt.“
Lange Zeit waren theoretische Chemiker Exoten in einem Fach, das eher handfest und experimentell arbeitet. „Als ich in Erlangen promovierte, gab es zwar schon einen Lehrstuhl – aber nur wenige haben sich in diese Nische ‚verirrt‘.“ Doch am Rand steht Peter Saalfrank schon lange nicht mehr. „Die theoretische Chemie ist eine der großen ‚Wachstumsbranchen‘ innerhalb der Chemie.“ Immer mehr werden zeitraubende „Trial-and-Error“-Experimente zunächst durch gezielte Untersuchungen am Computer ersetzt, bevor man tatsächlich im Chemielabor tätig wird. In seiner Arbeit simuliert der Wissenschaftler mit seinem internationalen Team auch Umgebungen oder Moleküle, die physisch noch gar nicht existieren, zum Beispiel unter extremen Bedingungen wie sehr niedrigen Temperaturen. So gewinnen sie Einblicke in Reaktionen, die experimentell schwer zu untersuchen sind.
Mit dem Forschungsprojekt IRASTRO wollen Saalfrank und seine Kollegen nun in Regionen vorstoßen, „wo nie zuvor ein Mensch gewesen ist“. Dabei macht die theoretische Chemie oftmals den ersten Schritt, interpretiert die gemessenen Infrarotsprektren und berechnet mögliche Reaktionswege der Moleküle, ehe die experimentell arbeitenden Kolleginnen und Kollegen folgen und die Szenarien im Labor nachbauen und testen. Dabei ist das Projekt zwar echte Grundlagenforschung im quasi schwerelosen Raum, aber keineswegs zweckfrei. „Die Technologie zur Einzelmoleküldetektion könnte für die nächste Generation von Weltraumteleskopen bedeutsam sein“, sagt der Chemiker. „Und Reaktionen an Oberflächen bei niedrigen Temperaturen sind nicht nur im Weltall relevant, sondern könnten auch neue Einsichten bieten, die für industrielle Katalyseprozesse nutzbar sind.“
Die Quantenmechanik ist eine Theorie, die 2025 ihr 100-jähriges Gründungsjubiläum feiert. Sie beschreibt im Gegensatz zur klassischen Physik Eigenschaften von Materie bis zum Größenbereich der Atome herab und weiter darunter. Sie ist eine der Hauptsäulen der modernen Physik und bildet die Grundlage zur Beschreibung von Phänomenen der Atom-, der Festkörper- und der Kern- und Elementarteilchenphysik, aber auch verwandter Wissenschaften wie der Quantenchemie.
Der ERC Synergy Grant ist eines der renommiertesten europäischen Förderinstrumente. ERC Synergy Grants ermöglichen Kollaborationen von zwei bis vier Spitzenforschenden, die Expertise und Ressourcen zusammenführen, um gemeinsam komplexe Forschungsfragen anzugehen. Der 2007 von der Europäischen Union gegründete ERC ist die wichtigste europäische Förderorganisation für Spitzenforschung. Er finanziert kreative Forschende jeder Nationalität und jeden Alters, um Projekte in ganz Europa durchzuführen. Das Gesamtbudget des ERC für den Zeitraum 2021 bis 2027 beläuft sich im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms Horizon Europe auf mehr als 16 Milliarden Euro.
https://erc.europa.eu/apply-grant/synergy-grant
Die theoretische Chemie entwickelt und wendet nicht-experimentelle Methoden an, um chemische Prozesse zu beschreiben und vorherzusagen. Dabei stützt sie sich auf mathematische Verfahren und physikalische Theorien – insbesondere solche, die im Bereich der Atome und Moleküle arbeiten, wo klassische Mechanik oft versagt.
Prof. Dr. Peter Saalfrank studierte Chemie in Erlangen, wo er auch promovierte. Nach Stationen an der Freien Universität Berlin, der University of California (Berkeley), dem University College London und der Universität Regensburg ist er seit 2003 Professor für Theoretische Chemie an der Universität Potsdam.
E-Mail: peter.saalfrankuuni-potsdampde