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„Solange Menschen sterben, werden Religionen weiter existieren“ – Johann Hafner über das Auf und Ab des Glaubens

Prof. Dr. Johann Ev. Hafner in seinem Büro während des Interviews.
Foto : Thomas Roese
Prof. Dr. Johann Ev. Hafner

2021 sind rund 360.000 Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten, so viele wie noch nie zuvor. Erstmals sind in Deutschland mehr Menschen nicht in einer Kirche als umgekehrt. In anderen, weniger prominenten Religionen sieht die Lage noch dramatischer aus. Ist das der Anfang vom Ende – oder nur eine Phase der Neuorientierung? Gibt es ein Artensterben der Religionen? Matthias Zimmermann sprach mit dem Religionswissenschaftler Prof. Dr. Johann Ev. Hafner über religiöse Verdunstung, Strategien gegen den Niedergang und warum es vielleicht nicht so weit kommt.

Gibt es ein Artensterben unter den Religionen?

Überall auf der Welt macht sich der Säkularisierungsdruck bemerkbar. Die Zahl der Religiösen, also der Anhänger uns bekannter Religionen, wird wegen des Bevölkerungswachstums in absoluten Zahlen noch zunehmen, aber noch nie gab es einen so großen und wachsenden Anteil von Nichtreligiösen, v. a. in Europa, Nordamerika, China, Japan und Australien. Dort schmelzen die Religionen auf den heißen Kern ihrer Engagierten zurück. Manche begrüßen das sogar als Reinigungsprozess und sehen sich selbst als „heiligen Rest“. Jene, die nur kulturell verbunden sind, treten aus oder bleiben einfach weg.

Die großen sogenannten Weltreligionen werden nicht verschwinden. Anders sieht es bei ethnolinguistischen Gesellschaften aus, die an einen Ort oder ein Volk gebunden sind. Sie können sich nicht durch Mission oder Exogamie vergrößern. Im Gegenteil: Endogamische Religionen haben eine negative Bilanz, sie schrumpfen. Noch dramatischer sieht es bei bedrohten Völkern aus, wie etwa den Bergnationen in den Philippinen. Dort gibt es in fast jedem Tal eine eigene Sprache und eigene Göttervorstellungen. Der Kolonialisierung durch die Spanier haben sie sich jahrhundertelang erfolgreich widersetzt, aber der Modernisierung in den vergangenen 40 Jahren konnten sie kaum etwas entgegensetzen. Sie hat die entlegenen Gegenden über Straßen, Schulen und die Sozialen Medien mit der Mehrheitskultur verknüpft. In der Folge verschwinden sprachliche und religiöse Eigenheiten – in einem Verdunstungsprozess, einer Art religiöser Assimilation.

Wird insgesamt weniger geglaubt?

Es geht gar nicht nur um „Glauben“. Die Vorstellung, Religion bestehe aus Glaubensüberzeugungen und sei etwas Intellektuelles oder Gefühlsmäßiges, ist sehr protestantisch. Dabei wird vergessen, dass in vielen Teilen der Welt der Vollzug von religiösen Regeln und die Teilnahme an religiösen Ritualen wesentlich ist. Es gibt viele Menschen, die den Koran auf Arabisch rezitieren, ohne selbst Arabisch zu können; aber sie nehmen damit am „herabgesandten Wort“ teil. Schlechte Nachricht für die Religion: In allen Ländern, in denen die soziale Ungleichheit zurückgeht, nimmt auch die Religiosität ab. Weltweit. Im Gegenzug florieren sie dort, wo Menschen Existenzängste erleben und das Gefahrenbewusstsein hoch ist. Das regt das Gebet an: Herr, verschone mich! Oder umgekehrt: Gott, lass das gelingen!

Können Religionsgemeinschaften etwas dagegen tun?

Es gibt verschiedene Strategien. Einige binden sich eng an den Nationalismus, wie Hindutva, der „Hindu-Nationalismus“. Dessen Doktrin lautet: Ein richtiger Inder ist auch Hindu. Das ist natürlich Unsinn, denn Indien wurde maßgeblich von christlichen und muslimischen Kulturen geprägt. Diese enge Bindung an eine imaginierte Nation soll angeblich das Überleben der Heimatreligion sichern. Allerdings steht dahinter der Versuch einer kleinen Elite, eine kollektive Identität vorzustellen, die gegen Fremdeinflüsse geschützt werden muss. Ähnlich ist es in Russland, wo Putin als ideologisches Programm vorgibt, das Russentum und den Glauben retten zu wollen. Im Gegenzug rechtfertigt der Patriarch der Orthodoxen Kirche den Krieg, mit dem vorgeblich der Ausverkauf der Religion verhindert werden soll. Ich denke, diese Rechnung geht nicht auf. Die Modernisierung ist stärker als nationalstaatsgebundene Ethnoreligionen.

Andere suchen den Schulterschluss mit der Popkultur, wie die Megachurches, etwa in den USA oder auch Lateinamerika. Sie bieten eine regelrechte Sacroshow mit Musik, mitreißenden Predigten und Testimonials und Einspielern. Wenn Sie da in der Menge stehen, werden Sie von der Begeisterung mitgerissen. Besonders mitreißend ist der Pentekostalismus, die Pfingstbewegung, die an Ekstasepraktiken anknüpft. Er erlebt in Afrika, Asien und Lateinamerika einen enormen Zustrom und bildet vielerorts die stärkste Konkurrenz zum Katholizismus. In Afrika wird das stark mit Prosperity Gospel verknüpft. Frei nach dem Motto: Wenn du hier und heute betest und was gibst, wenn du großzügig spendest, wird dir Gott das siebenfach vergelten. Das verknüpft auf praktische Weise punktuelle Religiosität mit weltlichem Streben. Allerdings weiß niemand, wie lange pentekostale Bewegungen halten. Sie entstehen und vergehen mit einzelnen Predigern.

Werden Religionen insgesamt überflüssig?

Nein. Ich denke, solange Menschen sterben, werden Religionen weiter existieren. Denn es gibt zwei Sphären, die von keinem anderen sozialen System bearbeitet werden können: misslungenes Leben, das sich als Schuld manifestiert, und das endliche Leben, der Tod. Wenn ich was versäumt oder Fehler begangen habe, kann ich es nicht mehr rückgängig machen. Vergangenheit ist irreversibel – außer es gibt eine Macht, die auch über das Vergangene verfügt: Vergebung, Sühne, Reinigung. Ähnliches gilt für den Tod: Er ist unausweichlich und keiner kehrt zurück – es sei denn, einer kann die Todesgrenze überwinden: Auferstehung, Reinkarnation, Nirvana. Diese Aufgaben haben Religionen seit jeher übernommen, das war immer ihr Kerngeschäft und ist ihr stabilster Überlebensfaktor – überall auf der Welt. Wenn wir also nicht irgendwann das Geheimnis ewigen Lebens entdecken, werden wir Religion brauchen.

Wie geht Religion mit existenziellen Krisen wie dem Klimawandel um?

Die abrahamischen Religionen – Judentum, Christentum, Islam – haben stets den Menschen ins Zentrum gestellt. Immer war er der Adressat göttlichen Handelns. Angesichts der ökologischen Krise fangen viele an, anders zu denken: Ist der Mensch die Krone der Schöpfung? Nein, er ist zwar als letzte Art am sechsten Tag erschaffen, aber die Krönung ist der darauffolgende Ruhetag. Das ist die Zeit, in der die anderen Arten: Pflanzen, Fische, Tiere usw. in ihrer Eigenart leben und genießen können, so, wie Gott am siebten Tag ruht. Das relativiert die extreme Anthropozentrik, die wir so lange gepflegt haben. Sie beruht auf dem Gattungsegoismus, dass der Mensch das Beste sei, was Gott habe erschaffen können. Die Theologie ist gerade dabei, die Würde der Arten wiederzuentdecken. Für die Ernährung der Menschheit würden ein paar Tierarten genügen: Rinder, Heringe, Hühner. Aber in der Schöpfungserzählung der Bibel sind Tiere nicht für seine Ernährung gedacht. Zu einem gelungenen menschlichen Leben gehört das unübersehbare Wimmeln anderer Arten. Der Mensch hat seinen rechten Platz nur, wenn er umgeben ist von Lebewesen, die ein Eigenleben führen, obwohl er sie erforschen und beherrschen kann. Ich würde sogar sagen, dass Religion dazu da ist, dem Menschen begreiflich zu machen, sich nicht für das Wichtigste zu halten.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2022 „Artensterben“ (PDF).