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Unterwegs im anatolischen Hochplateau – Tag 4: Anatolia – ein Mikrokontinent auf der Flucht

Reisetagebuch: Studierende auf Exkursion in der Türkei

Blick auf die Nordseite des Taurusgebirges. Foto: Cengiz Yildirim.
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Blick auf die Nordseite des Taurusgebirges. Foto: Cengiz Yildirim.

Anatolien (Anatolia) ist ein Mikrokontinent, der sich mit mehreren Millimetern pro Jahr nach Westen bewegt. Geologen bezeichneten im frühen 20. Jahrhundert diese Bewegung als Fluchtschollentektonik, die sich nach einer Publikation des deutschen Mathematikers Prandtl im Jahr 1920 entlang sogenannter Gleitlinien zwischen plastisch und spröd deformierbaren Materialien ereignet. Die Gleitlinien in unserem Fall sind die Nord- und die Ostanatolische Blattverschiebung – große kontinentale Störungssysteme, die sich im Zuge der Kollision der Arabischen Halbinsel mit Eurasien in den letzten 18 Millionen Jahren entwickelt haben. Wir wollen heute einen integralen Bestandteil dieser Deformationsregion innerhalb der Anatolischen „Scholle“ untersuchen.

Unsere Gruppe wandert langsam die Nordflanke des Tauridengebirges hinauf, um die Ecemiş-Störungszone zu finden. Obwohl wir aufgrund eines erneuten und unerwarteten Busausfalls festes Schuhwerk und wichtige Nahrungsmittel eingebüßt haben, machen wir gute Fortschritte. Zunächst wollen wir uns einen Aufschluss von Schwemmfächerablagerungen anschauen, um Bodenbildungsprozesse in dieser trockenen Region zu verstehen. Wir können aber auch schon jetzt eine gute Aussicht auf die Störungszone erhaschen. Zur großen Überraschung aller hat sich unserer geologischen Expedition ein freundlicher Welpe angeschlossen, den wir durch großzügiges Streicheln und gelegentliche Wasserversorgung an uns gebunden haben. Gestern sahen seine Artgenossen mit den eisernen und gespickten Halskrausen noch sehr furchterregend aus. Von nun an begleitet uns der Kleine auf unserer Exkursion.

Doch nun zum spannenden, geologischen Teil des Tages: Wie können wir die Aktivität von Störungszonen anhand von Landformen erkennen und zu möglichen Naturgefahren in Beziehung bringen? Auffällige Erhebungen in den Schwemmfächersedimenten, Bruchzonen und Ablagerungen von Gesteinslawinen, deren Ursprung direkt an der steilen Bergfront zu suchen ist (Sturzströme), deuten auf wiederholte mögliche Erdbebenaktivität hin. Mithilfe von modernen Oberflächendatierungen durch terrestrische kosmogene Nuklide (36Cl) konnten Geologen um unseren Kollegen Cengiz Yildirim mehrere dieser deformierten Erhebungen und Bruchzonen zeitlich einordnen. Die Störungsaktivität wurde auf den Zeitraum zwischen 104.000 und 64.000 Jahren vor heute eingegrenzt. In dieser Zeit wurde der westliche Teil des Fächers um 30 Meter vertikal versetzt. Allerdings hat die Ecemiş-Störungszone eine viel längere Aktivitätsgeschichte, die durch horizontale Versätze zwischen 60 und 80 Kilometer dokumentiert ist. Interessanterweise hat sich diese laterale Bewegungskomponente innerhalb der letzten Aktivitätszyklen zu einer Vertikalbewegung mit einer leichten lateralen Komponente verändert. Die genauen Hintergründe für diese drastische Veränderung in der Aktivität der Störung sind jedoch noch nicht vollkommen verstanden. Möglicherweise sind sie Ausdruck einer großregionalen Veränderung im tektonischen Spannungsfeld, die auch in anderen Gebieten der Plateauregion beobachtet werden kann. Während wir über die Bedeutung dieser Deformationsprozesse diskutieren, erreicht uns die Nachricht über ein Erdbeben in Istanbul – und führt uns vor Augen, dass sich der Mikrokontinent stetig weiterbewegt und auch in Zukunft immer wieder Erdbeben auslösen wird.

Text: Julian Janocha und Tim Hake
Online gestellt: Matthias Zimmermann
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde