Der Himalaya ist das höchste Gebirge der Erde – und eines der aktivsten: Immer noch wächst es etwa einen Zentimeter pro Jahr. Regelmäßig lässt dieses Wachstum die Erde erzittern. Hangrutschungen und sogenannte Murgänge, die Geröll, Schlamm und Wasser mit hoher Geschwindigkeit ins Tal befördern, sind hier keine Seltenheit. Manchmal bilden die Erdbewegungen Wälle, hinter denen sich das Wasser zu großen und kleinen Seen staut, und schaffen so nicht nur einmalige Natureindrücke, sondern auch neue Gefahrenquellen. Das Team von Oliver Korup vom Institut für Erd- und Umweltwissenschaften untersucht im Gebirgsland Nepal stumme Zeugen katastrophaler Seeausbrüche, die die Region seit Jahrtausenden formen.
Es ist ein Anblick, der nicht nur Geologenherzen höher schlagen lässt: Schneebedeckte Gebirgskämme ziehen sich bis zum Horizont, Eismassen türmen sich zu gigantischen Gletschern, dazwischen blitzen kristallblaue Seen. Der Geowissenschaftler Oliver Korup sucht in diesen Panoramen versteckte Hinweise auf Naturrisiken. „Die Ausbrüche natürlicher Stauseen gehören zu den Naturgefahren im Himalaya, auf die Forscher ein besonderes Augenmerk legen“, erklärt er. Meist entstehen die Seen durch Gletscherwasser, das sich hinter Geröll und Erdansammlungen aufstaut. Durch die Erderwärmung könnte zusätzliches Schmelzwasser vorhandene Seen vergrößern, neue bilden oder Seen gar häufiger ausbrechen lassen, spekulieren weltweit Forscher.
Irgendwann laufen die natürlichen Badewannen über, die Wassermassen bahnen sich ihren Weg ins Tal. Geschieht dies sehr plötzlich – etwa durch ein Beben, einen Felssturz oder heftige Niederschläge – können die Auswirkungen verheerend sein. Das Wasser reißt Erde, Sediment, Steine und Geröll mit sich und entfaltet eine ungeheure Kraft. „Wie flüssiger Zement“ ergießt sich die Lawine auf Häuser, Siedlungen, Wasserkraftwerke und verändert ganze Flussläufe. Das Tückische: Auch bei blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein treten die Seeausbrüche auf und es gibt nicht immer Vorwarnzeichen. Historisch seien Dutzende solcher Ereignisse aus den letzten 100 Jahren belegt, erklärt Oliver Korup. Doch wie häufig es tatsächlich zu größeren Ausbrüchen kommt, ist unbekannt. „Die Dunkelziffer ist vermutlich hoch.“
Um Licht ins Dunkel zu bringen, rekonstruieren die Forscher nun vergangene Seeausbrüche. Dazu begeben sie sich direkt vor Ort auf die Suche nach Ablagerungen, die die Ausbrüche hinterlassen haben. Die Untersuchungen sollen aufklären, wann es zu Ausbrüchen kam und welche Quellen und Ausmaße diese hatten.
Rund um Pokhara, der zweitgrößten Stadt Nepals, wurden die Forscher fündig. „Pokhara ist auf einem selbst für den Himalaya ungewöhnlich großen Schuttfächer gebaut“, beschreibt Oliver Korup das Gelände. Das Interessante für die Geoforscher: Dieser Untergrund besteht aus Sedimenten. Doch bemerkenswert sind vor allem zwei weitere Merkmale: „Der Fächer ist sehr jung und, zumindest geologisch gesehen, in wenigen Augenblicken entstanden.“
Diese Hinweise konnten die Potsdamer Forscher nun erstmals mit unabhängigen Methoden belegen und konkretisieren. Systematisch kartierten sie das Gelände, vermaßen die Gesteinsbrocken und bestimmten ihre Herkunft über die Mineralzusammensetzung, datierten das Alter der Sedimente, analysierten die Oberflächenstrukturen und Höhe der Ablagerungen mittels Laserscanning. Die erhaltenen Ergebnisse bezeichnet Oliver Korup als „besorgniserregend“. Denn die Altersdatierungen zeigten: Das gefundene organische Material stammt überwiegend aus dem frühen Mittelalter und ist rund 700 Jahre alt. „Der Untergrund von Pokhara ist sehr, sehr jung“, betont Oliver Korup. Zudem stammen die Ablagerungen nicht von den lokalen Hängen rings um die Stadt, sondern aus einer 30 bis 70 Kilometer entfernten Region im hohen Himalaya. Einer oder mehrere gigantische Seeausbrüche könnten das Material hierher gespült haben, vermuten die Forscher.
Wahrscheinlich ist das kein Einzelfall. Denn innerhalb von 500 Jahren kam es an derselben Stelle gleich dreimal zu großen Überschwemmungen mit massiven Ablagerungen, wie die Daten zeigen. „Ob sich das wiederholen könnte, ist schwer zu sagen, aber nicht auszuschließen. Wir kennen bisher keine Ereignisse, die so weitreichend die Landschaft nachhaltig verändernd und gleichzeitig so geologisch jung wären.“
Die hier vorgestellte Forschung ist verbunden mit der Forschungsinitiative NEXUS: Earth Surface Dynamics, die unterschiedlichste wissenschaftliche Aktivitäten der Region Berlin-Brandenburg aus dem Themenfeld Dynamik der Erdoberfläche bündelt. Die Universität Potsdam (UP), gemeinsam mit ihren Partnern des Helmholtz-Zentrums Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum (GFZ), des Alfred-Wegener-Instituts für Polar und Meeresforschung (AWI) sowie mit Partnern des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), des Naturkundemuseums Berlin (MfN) und der Technischen Universität Berlin (TUB) verbindet hierzu die herausragende Expertise in den Geo-, Bio, Klima- und Datenwissenschaften.
Text: Heike Kampe
Online gestellt: Daniela Großmann
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