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Fressen und gefressen werden – Über das Zusammenspiel von Artenvielfalt und ökologischer Dynamik

Die Grünalge Pediastrum. Foto: Christina Schirmer
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Die Grünalge Pediastrum. Foto: Christina Schirmer

Weltweit nimmt die Artenvielfalt rapide ab. Die Gründe dafür sind bekannt: Klimawandel, Raubbau, Landnutzungsänderungen und Verschmutzung. Mehr und mehr verlieren die geschwächten Ökosysteme ihre Fähigkeit, ungünstige Umwelteinflüsse abzupuffern. Umso wichtiger ist es, die Dynamik solcher Prozesse zu verstehen und Modelle zu entwickeln, mit deren Hilfe sich die Veränderungen vorhersagen und positiv beeinflussen lassen. Ein Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) widmet sich dieser Aufgabe. Koordinatorin ist die Biologin Ursula Gaedke, Professorin für Ökologie und Ökosystemmodellierung an der Universität Potsdam.

Wildwuchs im Büro. Eine gewaltige Yucca bedeckt die Fensterfront. Der Blick hindurch verfängt im Grün des Botanischen Gartens, der mitten im Park von Sanssouci liegt. Welch ein Arbeitsort für eine Biologin, die sich mit der Artenvielfalt in Ökosystemen beschäftigt!

Im Büro von Ursula Gaedke herrscht Betriebsamkeit. Die Professorin steht mit einer Studentin am Flipchart und erklärt die Verlaufskurve eines Experiments. Dicht gefüllte Bücherregale ragen bis an die Decke. Die Mitte des Raums beherrscht ein Tisch, auf dem sich Mappen, Arbeiten, Manuskripte stapeln. Dazwischen ein schweres Handbuch, das nichts mit Biologie zu tun hat. Es ist eine Anleitung für das Managen von Verbundprojekten. Für Ursula Gaedke ein unverzichtbares Arbeitsinstrument, seit sie ein DFG-Schwerpunktprogramm koordiniert.

Wissenschaftliche Teams aus ganz Deutschland erforschen darin das Zusammenspiel von Artenvielfalt und ökologischer Dynamik am Beispiel aquatischer Lebensgemeinschaften. Es geht um die Frage, wie sich Nahrungsnetze an veränderte Bedingungen zum Beispiel durch den Klimawandel anpassen können, welche Rolle die vorhandene Biodiversität dabei spielt und ob sie erhalten bleibt. Bislang, so Ursula Gaedke, ist in der ökologischen Forschung kaum berücksichtigt worden, wie sich die Anpassungsfähigkeit natürlicher Populationen und Lebensgemeinschaften auf ihre Dynamik unter veränderten Umweltbedingungen auswirkt. Mit experimentellen Untersuchungen und mathematischen Modellen sollen hierzu nun neue Theorien entwickelt werden.

Um es konkret zu machen, führt Ursula Gaedke in den Keller des Institutsgebäudes, wo sich mehrere Klimakammern befinden. Aufgereiht in Regalen stehen dort Kolben voller Algenkulturen, die von Räder-, Pantoffel- und anderen Tierchen gefressen werden. Im Experiment können hier die Umweltbedingungen variiert und die Anpassungsweise der Organismen studiert werden. Dreimal pro Woche ist Fütterung im „Kleintierzoo“, sagt die Biologin und zeigt auf einen Kolben, in dem zehn bis 20 Brachionus sericus pro Milliliter Nährlösung zu finden sind. Bei genauem Hinsehen lassen sich diese Rädertierchen als schwebendes Zooplankton erkennen. Die Wissenschaftler haben diese winzigen Tiere vor allem deshalb als Modellorganismen gewählt, weil sie an ihnen dynamische Prozesse in schnellen Zyklen nachvollziehen können. Mitunter bilden solch kleine Organismen mehrere Generationen an nur einem Tag aus.

„Es ist nicht einfach zu verstehen, wie Nahrungsnetze auf veränderte Bedingungen reagieren. Die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Organismen sind sehr komplex.“ Ursula Gaedke erklärt das an einem Beispiel: Gibt es in einem Gewässer viele Kleinkrebse wie zum Beispiel Wasserflöhe, verringert sich die Zahl der fressbaren Algen. Sie beginnen sich zu schützen, indem sie Klumpen bilden und sich in Kolonien zusammenlagern. In dieser Lebensform können sie jedoch weniger Nährsalze aufnehmen, was sie bei hohen Dichten weniger konkurrenzfähig werden lässt. Andere Algen verteidigen sich phänotypisch, indem sie lange Fortsätze ausbilden. „Aber auch das gibt es nicht zum Nulltarif“, so die Biologin. „Solch eine Strategie kostet Energie, die dann wieder beim Wachsen fehlt.“ Auf der anderen Seite seien die Räuber, also die Wasserflöhe und anderen Krebse, in der Lage, die Verteidigung der Algen zu überwinden. Räuber und Beute können sich also permanent einander anpassen.

Die Wissenschaftlerin interessiert nun, wie solche dynamischen Systeme auf Umwelteinflüsse reagieren. „Bleiben in einem Gewässer nur schlecht fressbare Algen übrig, bedeutet dies eine geringere Biodiversität. Wenn sich dann die Umweltbedingungen ändern, kann das Ökosystem nicht mehr groß reagieren. Es hat sich festgefahren“, so Ursula Gaedke. Anders sei die Lage, wenn die Lebensgemeinschaft divers und damit variabel und anpassungsfähig ist und sich so die Dynamik des Systems verändern kann. „Die Lösung ist ein Kompromiss zwischen Verteidigen und Wachsen. Das erhält die Biodiversität.“ Wichtig aber sei die Form der Abhängigkeit in diesem Kompromiss, betont die Biologin.

Ziel des von ihr koordinierten Verbundprojektes ist es, den Rückkopplungsmechanismus zwischen der Biodiversität und der Anpassungsfähigkeit und Robustheit von Ökosystemen genauer zu verstehen, um Reaktionen auf Störungen besser vorhersagen und managen zu können. Hat die Forschung bisher bestimmten Arten feste, statische Eigenschaften, unabhängig von den Umweltbedingungen, zugesprochen, so sollen in den neuen Modellen erstmals funktionelle Merkmale berücksichtigt werden, wie etwa die Fressbarkeit der Beute oder das Beuteschema von Räubern, die sich über die Zeit ändern können. In insgesamt 20 Einzelprojekten führen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Experimente in Labor und Freiland durch und entwickeln neue theoretische Konzepte. Ursula Gaedke, die nicht nur Biologin, sondern auch Mathematikerin ist, zeigt am Computermodell, dass die Kurven des ständigen Wechselspiels gegenseitiger Anpassung längst nicht so regelmäßig verlaufen wie früher angenommen. Bislang wurden die funktionellen Eigenschaften kaum beachtet. Doch erst wenn die Modelle mit den realen Messdaten übereinstimmen, lassen sich mit ihnen mögliche Szenarien modellieren. „Deshalb“, so Gaedke, „sorgen wir für einen permanenten Abgleich: Messdaten aus Experimenten fließen in das Modell, das wiederum im Experiment überprüft wird.“ Im Ergebnis soll ein Instrument zur Verfügung stehen, mit dem die Wissenschaftler prognostizieren können, in welcher Weise Ökosysteme etwa auf Klimaveränderungen reagieren. Die Zeit drängt, mahnt die Wissenschaftlerin. „Denn wenn wir die Biodiversität verlieren, verlieren wir die Fähigkeit zur Anpassung.“

Die Wissenschaftlerin

Prof. Dr. Ursula Gaedke studierte Biologie und Mathematik in Oldenburg, Texel und Oxford. 1988 promovierte sie in Ökologischer Theorie in Oldenburg. 1995 folgte die Habilitation auf dem Gebiet der Analyse und Modellierung pelagischer Nahrungsnetze an der Universität Konstanz. Seit 1999 ist sie Professorin für Ökologie und Ökosystem-Modellierung an der Universität Potsdam.

Kontakt

Universität Potsdam
Institut für Biochemie und Biologie
Maulbeerallee 2, 14469 Potsdam
E-Mail: gaedkeuni-potsdamde

Das Projekt

Flexibility matters: Interplay between trait diversity and ecological dynamics using aquatic communities as model systems (SPP 1704)
Laufzeit: 2014–2021
Finanzierung: Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Text: Antje Horn-Conrad
Online gestellt: Agnes Bressa
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde