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Kann uns Lesen uns der Natur näherbringen? Die Literaturwissenschaftlerin Sabine Röttig erforscht ökologische Kinderliteratur

Ein Berg aus Büchern. Auf dem Gipfel steht ein Baum.
Photo : AdobeStock/Jorm Sangsorn
Geschichten können einen großen Einfluss auf unsere Kinder haben und letztlich sogar prägen, wie die nächste Generation in die Welt blickt – auch im Hinblick auf den Naturschutz.

Gundula Priebe ist die einzige, die es bedauert, dass die jahrhundertealte Linde in ihrem Dorf gefällt werden soll – zugunsten des Verkehrs. Doch weil das Mädchen nicht nachgibt, ihrem Kummer darüber Ausdruck verleiht, ändert schließlich die Gemeindevertretung ihre Entscheidung. Der Baum bleibt als Naturdenkmal erhalten. Horst Beselers Kinderbuch „Die Linde vor Priebes Haus“ von 1970 war für die Literaturwissenschaftlerin Dr. Sabine Röttig eine Schlüsselerfahrung. Sie las es als Kind, in den Ästen eines alten Kirschbaums im Garten ihres Elternhauses sitzend, und fand darin ihren eigenen Schmerz darüber wieder, dass auch in ihrem Heimatort eine ganze Allee alter Bäume gefällt wurde: „Der Ort wirkte danach völlig nackt und seelenlos.“ Seit ihrer Kindheit ist Sabine Röttig leidenschaftliche Leserin. An der Professur für Grundschulpädagogik Deutsch erforscht die Wissenschaftlerin heute, welche Bedeutung Literatur für Kinder hat und wie sie ihre Sicht auf und ihren Umgang mit unserer Umwelt verändern kann.

Kinder für Bücher begeistern

Der Wissenschaftlerin zufolge ist Lesen für Kinder mehr als ein Zeitvertreib. „Literatur holt sie in ihrer aktuellen Lebenswirklichkeit ab, hilft beim Verstehen und Einordnen auch schwieriger Themen, fördert Fantasie und das Vorstellen künftiger Welten“, sagt Sabine Röttig. Und sie ermögliche eine Art „Probehandeln“, ein Nachdenken darüber, wie man sich selbst verhalten würde. „Kinder können sich so über Gefühle klar werden, finden Beispiele, wie andere mit belastenden Situationen umgehen, und Trost, dass sie nicht allein damit sind. Bücher schaffen Rückzugsorte und transportieren die Leserinnen und Leser gleichzeitig in andere Welten, sie sind witzig oder traurig, spannend oder lehrreich, laden zum Mitfühlen ein.“

Doch wie weckt man überhaupt Leselust bei Kindern? Wenn Eltern ihren Kindern vorlesen oder sie sich gemeinsam Bilderbücher anschauen, treten sie darüber in intensiven Kontakt und sprechen über die Geschichten. „Die Forschung ist sich einig, dass diese Erfahrungen von Nähe eine Schlüsselrolle spielen.“ Entscheidend ist außerdem, ob die Eltern selbst gerne zum Buch greifen, denn die Kleinen lernen am Vorbild. So gilt die Familie gar als wichtigster Faktor in der Lesesozialisation: „Kinder, denen viel vorgelesen wurde, haben bereits vor Schulbeginn einen reichhaltigen Wortschatz und kennen grundlegende Geschichtenschemata“, sagt Röttig. „Sie entdecken überall in ihrer Umgebung Buchstaben – und wollen Lesen lernen, um selbst in Geschichten eintauchen zu können.“ 

 

Literatur und Ökologie

Geschichten können wiederum einen großen Einfluss auf unsere Kinder haben und letztlich sogar prägen, wie die nächste Generation in die Welt blickt. Dem „Ecocriticism“ zufolge – ein wissenschaftlicher Ansatz, der literarische Texte mit Ökologie in Zusammenhang bringt – kann Sprache unsere Wahrnehmung von Natur verändern und uns mit unserer Umwelt verbinden. Doch damit das gelingt, braucht es weder zwingend belehrende Texte noch schreckliche Dystopien oder apokalyptische Klimafiktionen. Stattdessen, so Röttig, bedarf es „einer Literatur, die uns mit unserer Mitwelt verbindet, uns Sinne und Herz für sie öffnet. Für den Schutz dessen, was man liebt, kann man sich einsetzen.“ So zum Beispiel beim Thema Wolf, der sich seit einigen Jahrzehnten wieder in Deutschland ausbreitet. Eine Entwicklung, die sich auch auf seine Darstellung in Kinderbüchern ausgewirkt hat und so die Wahrnehmung von Wölfen entscheidend mitprägen kann. Weg vom archetypischen bösen Wolf der Märchen hin zu mehr Verständnis, Einfühlung und Respekt. „Literatur ermöglicht es, Perspektiven nicht-menschlicher Spezies einzunehmen und überkommene moralische Annahmen infrage zu stellen“, erklärt die Forscherin. Denn wenn wir andere Lebewesen als denkend und fühlend wahrnehmen, steigt unsere Empathie für sie. Und damit bietet sie auch eine Lösung für das Problem des sogenannten „environmental doublethink“: Damit beschrieb der amerikanische Literaturwissenschaftler und Pionier des Ecocriticism Lawrence Buell Mitte der 1990er Jahre das Problem, dass Wissen über den Klimawandel nicht automatisch zu entsprechendem Handeln führt. Das, glaubt Sabine Röttig, könnte jedoch solche Literatur leisten, die Wissen mit Emotionen und Werten verbindet und uns so der Natur näherbringt. Unter diesem Gesichtspunkt hat die Forscherin gemeinsam mit ihrer Kollegin Julia Kruse eine Checkliste entworfen: Sie unterstützt Lehrkräfte dabei, Kinderbücher auszuwählen, mit denen sie Naturverbindung anbahnen können.

 

Bäume verstehen

Selbst unser Verhältnis zu Pflanzen kann von einer einfühlsameren Darstellung profitieren: Schließlich haben sie für viele Menschen eher Objektcharakter, da wir ihre Art zu kommunizieren auf den ersten Blick nicht verstehen. Eine vorsichtige Vermenschlichung von Pflanzen könne uns aber einen besseren Einblick in ihr Leben geben, glaubt Sabine Röttig: „Das Hinterfragen sprachlicher Gepflogenheiten kann die kulturell gemachte Grenze zwischen Mensch und Natur auflösen. Was passiert zum Beispiel, wenn wir nicht davon sprechen, dass Bäume gefällt, sondern ermordet werden?“ Ein Beispiel hierfür ist das Kinderbuch „Willa of the Wood“ von Robert Beatty aus dem Jahr 2018. In diesem nutzt die namensgebende Willa, ein Mädchen aus dem Waldvolk der Faeran, seine Fähigkeit, mit Pflanzen zu kommunizieren, um diese zu einer konzertierten Sabotage-Aktion gegen Holzfäller zu bewegen. Was wie Fantasy klingt, ist jedoch von aktuellen Erkenntnissen aus der Pflanzenphysiologie inspiriert, die zeigen, dass Bäume durchaus miteinander kommunizieren. Literatur, die Kindern das bewusstmacht, kann zu einem Aufbrechen anthropozentrischer Sichtweisen und einem neuen Umgang mit Tieren und Pflanzen führen: „Die Forschung zu Pflanzen bringt gerade Erstaunliches zutage, und es wird deutlich, wie wenig wir hier wissen“, sagt Röttig. „Da ist ein bisschen menschliche Demut angebracht.“


Sabine Röttig ist akademische Mitarbeiterin an der Professur Grundschulpädagogik Deutsch. Sie hat an der App Voculus mitgewirkt, die den Einfluss von Hörbüchern auf das Lesenlernen an brandenburgischen Schulen untersucht.

https://www.uni-potsdam.de/de/gsp-deutsch/forschung/voculus


Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2025 „Kinder“.