Hinterher ist man immer schlauer!
Wie hätten Sie entschieden? Ein Straftäter, der vermindert schuldfähig ist, befindet sich im Maßregelvollzug. Der Chefarzt der Maßregelvollzugsklinik genehmigt ihm eine Lockerung: Er bekommt Freigang und trifft sich mit seiner Partnerin. Es kommt zu einem Streit zwischen den beiden, der Mann taucht ein halbes Jahr unter und begeht mehrere Raubüberfälle, bei dem zwei Frauen zu Tode kommen. Nun hat eine Richterin zu beurteilen, ob der Arzt fahrlässig gehandelt hat, als er den Freigang erlaubt hat. Dieser Moment ist es, für den sich die Sozialpsychologin Prof. Dr. Aileen Oeberst besonders interessiert. Denn hier kann Richterinnen und Richtern der folgenreiche „Rückschaufehler“ passieren: Im Nachhinein empfinden wir es als wahrscheinlich, vorhersehbar, fast schon zwangsläufig, dass der Mann rückfällig wird. „Das nennen wir die Rückschau-Perspektive“, erklärt Aileen Oeberst. „Rückblickend nehmen wir Informationen sehr selektiv wahr und ignorieren Aspekte, die für einen anderen Ausgang gesprochen haben. Aber diese Sichtweise ist unfair. Deswegen sollen Richter*innen den Ausgang ignorieren – nur können Menschen das wirklich schlecht.“
Wie schwer uns das fällt, haben Oeberst und eine Kollegin mit Richterinnen und Richtern in einer Fortbildung getestet. Alle bekamen dasselbe Szenario vorgelegt: Mit dem Unterschied, dass ein Teil der Gruppe den Ausgang des Falls erfuhr, während die anderen eine Fassung erhielten, die die Geschichte nur bis zur Entscheidung des Arztes erzählte. Beide sollten das Risiko für einen Rückfall einschätzen. Sie kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen – diejenigen, die den ganzen Fall gelesen hatten, betrachteten das Verhalten des Arztes eher als strafbar als diejenigen, die die verkürzte Fassung erhalten hatten. „Der sogenannte Rückschaufehler ist ein sehr robuster Effekt, der systematisch zu harte Urteile verursacht“, erklärt Oeberst. Doch wie können wir diesen Fehler verhindern, der wohl kaum in böser Absicht geschieht? „Hier würde man dazu raten, die sogenannte Consider-the-opposite-Strategie anzuwenden und dezidiert zu überlegen, was für einen alternativen Ausgang gesprochen hätte.“ Zudem könnten forensische Psychiater beauftragt werden, die nur die Informationen erhalten, die auch der Chefarzt hatte, als er seine Entscheidung traf.
Aileen Oeberst, die in Osnabrück promovierte und als PostDoc am Leibniz Institut für Wissensmedien in Tübingen forschte, war ab 2016 Juniorprofessorin für Forensische Psychologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 2019 wurde sie Professorin für Psychologie an der FernUniversität in Hagen. Dort beschäftigte sie sich mit zahlreichen weiteren Fehlleistungen dieser Art, die sich aus ihrer Sicht alle in einer „Grundformel“ zusammenfassen lassen: Menschen verarbeiten Informationen in der Regel so, dass sie ihre eigenen Überzeugungen bestätigen. Doch was können wir dagegen tun, uns quasi um uns selbst zu drehen? „Eine Möglichkeit ist sicherlich, uns unserer Überzeugungen bewusst zu werden und sie immer wieder zu hinterfragen“, so die Sozialpsychologin.
Traumatische Erlebnisse vergisst man nicht
Nicht weniger gravierend als der Rückschaufehler können Erinnerungen an Ereignisse sein, die niemals stattgefunden haben. An der FernUni Hagen führte Oeberst gemeinsam mit einer Kollegin Studien zu falschen Erinnerungen durch. Die Forscherinnen „pflanzten“ Proband*innen falsche Kindheitserinnerungen ein, um in einem zweiten Schritt herauszufinden, ob sie korrigierbar sind. Dafür konnten sie sogar die Eltern der Testpersonen gewinnen. Diese lieferten die Informationen darüber, welche Ereignisse ihre Kinder zwischen dem vierten und 14. Lebensjahr erlebt hatten und welche nicht. In drei Gesprächen interviewte dann ein Mitarbeiter die erwachsenen Kindern zu ihren Erinnerungen an vier negative, aber nicht traumatische Ereignisse: zum Beispiel, dass diese als Kind im Urlaub verloren gegangen oder von einem Hund angefallen worden seien. Von diesen vier Ereignissen hatten die Versuchspersonen aber nur zwei tatsächlich erlebt; zwei hatten hingegen nicht stattgefunden. Tatsächlich glaubte ungefähr die Hälfte der Studienteilnehmenden nach kurzer Zeit wirklich an die nicht-erlebten Ereignisse und entwickelte auch eigene Erinnerungen daran. Als die Forscherinnen den Testpersonen zunächst ganz grundsätzlich erklärten, dass Erinnerungen falsch sein könnten, wurde vielen bereits klar, dass sie ihnen aufgesessen waren. Die anderen wurden schließlich von den Psychologinnen aufgeklärt.
Es war die erste Studie, die versucht hat, falsche autobiografische Erinnerungen rückgängig zu machen, sagt die Professorin. „Mit den Ergebnissen müssen wir aber noch sehr vorsichtig sein. Das Aufklären darüber, dass es falsche Erinnerungen gibt, ist in der wirklichen Welt wahrscheinlich nicht so effektiv wie bei uns im Labor. Außerdem haben wir es in Fällen aus der wirklichen Welt mit einem sehr langen Suggestionsprozess zu tun.“ Tatsächlich geschehen solche Suggestionen, wie der Interviewer sie in Oebersts Labor vorgenommen hat, wahrscheinlich am ehesten in Psychotherapien, in denen die Therapeut*innen und/oder Klient*innen der Überzeugung sind, dass verdrängte Kindheitstraumata wie sexueller Missbrauch Ursache des aktuellen Leidens seien. „Dabei gibt es keinerlei überzeugende Evidenz für die Idee des Verdrängens“, erklärt die Gedächtnisexpertin. „Die Forschung zeigt im Gegenteil, dass wir uns besonders gut an emotionale, überlebenswichtige und herausstechende Ereignisse erinnern. Es wäre auch evolutionsbiologisch nicht von Vorteil, wenn wir uns an einen Täter nicht erinnern können.“ Andere Gedächtnisforscher haben das einmal pointiert ausgedrückt: „Missbrauch vergisst man nicht“. Gleichzeitig bedeute das nicht, dass Betroffene etwa von sexuellem Missbrauch noch jedes Detail wissen. „Aber viele traumatisierte Personen werden Bilder des traumatischen Ereignisses nicht los. Das zeigen Studien mit Holocaustüberlebenden, Soldat*innen im Kriegseinsatz oder Kindern, die die Ermordung eines Elternteils erleben mussten.“
Die Verdrängung sei eine wahnsinnig erfolgreiche Idee, die der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud in die Welt gesetzt hat. Obwohl er sie später revidiert habe, halte sie sich hartnäckig, was eine aktuelle Befragung von Therapeut*innen zeigt: Sogar 76 Prozent der Verhaltenstherapeuten gaben an, verdrängte Kindheitserlebnisse als Ursache für die Symptome von Klient*innen vermutet zu haben, obwohl das Verfahren gar nicht auf der Annahme der Verdrängung basiert. Wenn Therapeut*innen jedoch annehmen, dass aktuelle Probleme durch ein verdrängtes Kindheitstrauma begründet sein könnten, dann kann es passieren, dass sie danach suchen: „Ihnen ist oft nicht bewusst, wo Suggestion beginnt. Nämlich manchmal schon in der Art und Weise, wie man eine Frage stellt oder dass man sie wiederholt. Ein ‚Ich erinnere mich nicht daran‘ sollten Therapeut*innen deshalb unbedingt akzeptieren.“
Ritueller Kindesmissbrauch – ein schwieriges Feld für die Gedächtnisforschung
Weil der Glaube an die Verdrängung so verbreitet ist, sorgt das Thema für hitzige Diskussionen. Besonders wenn es um Rituellen Kindesmissbrauch geht, also die zielgerichtete und schwere körperliche, psychische und sexuelle Gewalt in zerstörerischen Gruppierungen, die mit Mind-Control-Techniken arbeiten sollen: Sie spalten demnach Menschen gezielt in verschiedene Persönlichkeiten auf und programmieren einzelne Teilpersönlichkeiten für den Missbrauch. Gedächtnisforscherin Aileen Oeberst ist sich gar nicht sicher, ob es das Phänomen überhaupt gibt. „Die einzige Evidenz sind Berichte von selbstdefinierten Betroffenen. Es geht dabei um Netzwerke, die über Jahre teils so viele und so grausame Straftaten begangen haben sollen, dass man sich nicht vorstellen kann, dass es keine forensischen Spuren davon gibt.“ Die Betroffenen hätten oft eigene Ideen dazu, warum Spuren fehlten. Diese haben aber laut Oeberst den Charakter von Verschwörungstheorien. „Die Aussagen der Betroffenen sind auch deshalb problematisch, weil die Mehrheit von ihnen angibt, dass der Missbrauch in ihrer frühesten Kindheit stattgefunden habe. Wir können uns aber an die ersten zwei Lebensjahre überhaupt nicht erinnern. Aus dem dritten bis sechsten Lebensjahr können wir erste Erinnerungen haben, die aber oftmals auf Fotos oder auf Erzählungen etwa unserer Eltern fußen.“ Viele Betroffene seien sich außerdem erst mit Mitte, Ende 20 über den Rituellen Missbrauch bewusstgeworden seien. „Das passt nicht zu den Erkenntnissen der Gedächtnispsychologie.“
Dass die Täter*innen in vielen Fällen „Mind Control“ angewendet haben sollen, ist aus Sicht der Professorin ebenfalls nicht überzeugend. „Niemand konnte bislang wissenschaftlich seriös zeigen, dass dies tatsächlich funktioniert.“ Und selbst jahrelange Ermittlungen des FBI kamen zu dem Ergebnis, dass für solche Behauptungen keinerlei Evidenz vorliegt. „Aus Sicht der Gedächtnisforschung sind die Berichte der Betroffenen von rituellem sexuellen Missbrauch mit Mind Control unplausibel“, fasst Oeberst zusammen. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass es sich hier um falsche Erinnerungen im Rahmen einer Therapie handelt. Eine Studie von 2018 mit 150 selbstdefinierten Betroffenen zeigt nämlich, dass diese im Schnitt 369 Therapiesitzungen gehabt hatten.
Auch wenn die Professorin überzeugt ist, dass solche Suggestionen in den allermeisten Fällen in bester Absicht passieren – weil Therapeut*innen beispielsweise davon überzeugt sind, bestehendes Unrecht aufzudecken – sind die Folgen trotzdem immens. „Wenn ich wegen Depressionen oder einer Angststörung in Therapie gehe und mir dort gesagt wird, dass ich als Kind sexuell missbraucht wurde, kann sich dramatisch viel verändern.“ Die Sicht der Patientinnen und Patienten auf ihr bisheriges Leben wandelt sich grundlegend und das beeinflusst ihr Familien- und Arbeitsleben oft gravierend. Falsche Erinnerungen sind daher ein sehr schwieriges Feld. „Uns Gedächtnisforscher*innen wird manchmal vorgeworfen, Missbrauchsopfer generell zu diskreditieren und Täterschutz zu betreiben“, erzählt die Professorin.
Falsche Erinnerungen erkennen
Umso wichtiger findet sie es, das menschliche Gedächtnis weiter zu erforschen. Und zum Beispiel herauszufinden, wie wir falsche von wahren Erinnerungen unterscheiden können. Tatsächlich seien sie sich sehr ähnlich. „Der wesentliche Unterschied ist, dass man die falschen nicht immer hatte. Wenn ich Erinnerungen erst bekomme, seit ich zur Therapie gehe oder einen Ratgeber gelesen habe, ist das ein Alarmsignal“, erklärt Oeberst. Deswegen schauen sich Gerichte und insbesondere psychologische Sachverständige, wenn es um die Glaubhaftigkeit einer Erinnerung geht, die Aussageentstehung und -entwicklung an. Wenn aus „einem dunklen Schatten“ später eine detaillierte Erinnerung werde, sollten alle Alarmglocken läuten, so die Professorin. „Meist steht dann Aussage gegen Aussage, weswegen es ganz auf die Glaubhaftigkeit ankommt. Erst wenn ich sicher zurückweisen kann, dass die Aussage auf Suggestion beruht – oder erfunden ist – kann ich zu dem Ergebnis kommen, dass sie glaubhaft ist.“ Gleichzeitig betont die Professorin, dass der umgekehrte Fall sehr viel häufiger sei: Nämlich, dass Menschen tatsächlich Opfer sexueller Gewalt sind, diese aber nicht mit Sicherheit belegt werden kann, sodass die Täter nicht verurteilt werden.
Aileen Oeberst ist unter anderem Mitglied einer Expertenkommission des Bundesjustizministeriums zum Thema „Therapie und Glaubhaftigkeit“, in der ein Leitfaden für die juristische Praxis erarbeitet wurde. Seither fragt sie sich auch, welche Erwartungen von juristischer Seite an das Gedächtnis gestellt werden und ob diese Erwartungen aus empirischer Sicht gerechtfertigt sind. Wie konstant müssen Aussagen sein? Müssen sich Opfer sexueller Gewalt an genaue Körperpositionen erinnern können, damit ihre Aussagen als glaubhaft beurteilt werden? Um diesen Fragen nachzugehen, möchte die Forscherin Urteile des Bundesgerichthofs und aussagepsychologische Gutachten systematisch analysieren und mit empirischen Erkenntnissen abgleichen. Auch Studien will sie dazu durchführen. Um menschlichen Irrtümern auf die Schliche zu kommen, hat die Psychologin also in Potsdam viel vor.
Aileen Oeberst studierte an den Universitäten Leipzig und Cagliarì. Seit 2024 ist sie Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Potsdam.
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2024 „Europa“ (PDF).