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Wenn ich könnte, würde ich … die Naturgesetze außer Kraft setzen! – Mit dem Kognitionswissenschaftler Prof. Martin Fischer, Ph.D.

Martin Fischer in seinem Büro.
Photo : Thomas Roese
Martin Fischer ist seit 2011 Professor für Kognitive Wissenschaften an der Universität Potsdam.

Zumindest im Labor. Mein Thema ist das „verkörperte Wissen“. Um es besser zu verstehen, würde ich unter anderem gerne die Schwerkraft aufheben. Früher war die Metapher des Geistes als Computer vorherrschend. Das ändert sich derzeit. Mehr und mehr nimmt die Forschung heute das komplexe Zusammenspiel von Körper und Gehirn in den Fokus. Ich möchte herausfinden, wie der Körper, also seine Bewegungen und seine Orientierung im Raum, unsere Kognition beeinflusst.

Die Physik mit virtueller Realität „verändern“

Ich unterscheide drei verschiedene Formen der „Embodied Cognition“. Erstens die evolutionäre Perspektive: Welche sinnlichen Fähigkeiten bringen wir überhaupt mit? So haben wir zum Beispiel zwei Augen, mit denen wir Licht wahrnehmen können, was uns das Sehen ermöglicht. Anders als viele Tierarten wie Bienen oder Vögel haben wir aber keine Sinneszellen für ultraviolette Lichtwellen. Das gleiche gilt für Magnetfelder, die wir nicht spüren können. Hier geht es also um unsere Disposition, die bedingt, wie wir Aufgaben verarbeiten. Zweitens gehe ich davon aus, dass wir durch Erfahrungen Wissen verkörpern. Als Kinder lernen wir, dass es knallt, wenn wir einen Bauklotz auf den Boden fallen lassen. Das ist unsere sensomotorische Interpretation, die auf unserer Lernerfahrung basiert. Und als dritte Perspektive in dieser Theorie begreife ich das situierte Wissen, das sich von Moment zu Moment verändert. In einem Versuch haben wir zum Beispiel vor Kurzem herausgefunden, dass Menschen Reize in ihrem rechten visuellen Feld schneller wahrnehmen, wenn sie gerade eingeatmet haben. Obwohl seit Jahrzehnten untersucht wird, wie die Zuwendung der Aufmerksamkeit funktioniert, hatte das bislang niemand bemerkt. Diese dritte Ebene bestimmt stark mit, wie wir eine Aufgabe lösen. Wir werden also bei jeder Herausforderung von der Evolution, unserer individuellen Lerngeschichte und der körperlichen Verfassung im jeweiligen Augenblick bestimmt.

Hier am Lehrstuhl wollen wir bestehende Theorien testen, und dafür brauchen wir ganz bestimmte Bedingungen. Die virtuelle Realität ist für uns bisher die einzige umsetzbare – weil günstige – Art und Weise, die Physik, aber etwa auch unsere körperlichen Gegebenheiten zu „verändern“. Mit unserem neuen Doktoranden Jaime Riascos möchte ich bereits durchgeführte Studien zum Einfluss des Körpers auf die Kognition in der virtuellen Realität nachprüfen. Zum Beispiel sollen Testpersonen in der VR einen Turm bauen – allerdings von oben nach unten. Je mehr Klötzchen man unten anfügt, desto „höher“ wird er, bis er schließlich nach oben hin umfällt. Hier hoffe ich auch auf das VR-Labor, das im neuen Haus 32 in Golm entstehen soll.

Mehr Grundlagenforschung

Wenn wir könnten, würden wir solche Tests aber nicht nur visuell durchführen, sondern indem wir den gesamten Körper in einen fast schwerelosen Zustand versetzen. Wir haben einen Versuch entwickelt, mit dem wir den Einfluss der Orientierung des Körpers im Raum auf die räumliche Kognition untersuchen wollten. Kann man sich besser an zuvor eingeübte Wörter wie Schuhe, Wurzel oder Erde erinnern, wenn man gerade im Raumschiff mit dem Kopf nach „oben“ schwebt? Wie leicht fällt es uns, uns an Wörter wie Himmel, Wolke oder Gott zu erinnern, wenn sich der Kopf „unten“ befindet? Den Vorschlag für die Studie hatten wir beim Deutschen Institut für Luft- und Raumfahrt eingereicht, leider wurde er abgelehnt. Denn diese Versuche müssen nicht nur reproduzierbar sein, sie sind auch sehr teuer, weswegen nur wenige Vorschläge Erfolg haben. Jedes Kilogramm, das in den Weltraum geschossen wird, kostet um die 30.000 Euro.

Hätte ich mehr finanzielle und personelle Ressourcen, würde ich also noch mehr Grundlagenforschung betreiben. Die Erkenntnisse können für verschiedenste Bereiche genutzt werden, zum Beispiel um unsere Beziehungen zu künstlichen Agenten besser zu verstehen. Wie beeinflusst es Interaktionen zwischen Menschen und Robotern, wenn beide 37 Grad Körpertemperatur haben? Was macht es mit unserem Zahlengefühl, wenn unser Avatar nur drei Finger an jeder Hand hat? Axel Wiepke, der bei mir und Prof. Dr. Ulrike Lucke promoviert, arbeitet bereits für das virtuelle Klassenzimmer. Vielen angehenden Lehrkräften wird nämlich übel, wenn sie ein VR-Headset aufsetzen. Dieses Problem wollen wir lösen. Ich freue mich, wenn Forschende unterschiedlicher Disziplinen an der Universität mit mir gemeinsam Projekte angehen wollen, um mehr darüber herauszufinden, wie Körper und Kognition zusammenhängen.


Martin Fischer ist seit 2011 Professor für Kognitive Wissenschaften an der Universität Potsdam.


Embodied Cognition ist ein Ansatz in der Kognitionswissenschaft, wonach körperliche Erfahrungen, Gesten und Interaktionen mit der Umwelt das kognitive System beeinflussen.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2024 „Europa“ (PDF).