Wann hat digitale Lehre Sie zuletzt überrascht oder restlos überzeugt, weil sie etwas möglich gemacht hat, was bislang (analog) nicht ging?
Ulrike Lucke: Während der Corona-Pandemie. Wir steckten gerade in der Prüfungsphase, als die ersten Einschränkungen kamen. Und ich war heilfroh, dass es uns nicht ganz unvorbereitet getroffen hat. Wir hatten schon elektronische Prüfungsformate, sonst hätten wir das nicht hinbekommen. Aber was wir dann auf die Beine gestellt haben, hat mich überzeugt, nicht überrascht. In der Forschung arbeiten wir schon lange an digitaler Lehre.
Britta van Kempen: Mich hat überrascht, was mit dem Siegeszug von ChatGPT 2022 über uns kam. Und wieder ging es um Prüfungen, denn plötzlich stand ein Teil der Prüfungskultur komplett infrage.
Marlen Schumann: Die drei Veranstaltungen, die 2024 mit dem Landeslehrpreis ausgezeichnet wurden, haben mich überzeugt und mir gezeigt, dass digitale Lehre immer neue Türen öffnet. Und im Kleinen: Ich durfte unlängst miterleben, wie Studierende in einem Seminar sich in Kleingruppen auf eigene Podcast-Aufnahmen vorbereitet haben. Dabei haben sie sich intensiv mit dem Medium auseinandergesetzt und dessen Eigenheiten selbst erschlossen. Für mich ein sehr gutes Beispiel für digitale Lehre.
Sind Digitale Lehre und E-Learning dasselbe oder nicht?
Lucke: Ich denke, wir schreiben den beiden Begriffen Unterschiedliches zu. E-Learning bedeutet für die meisten, allein zu Hause am PC zu lernen. Das Bild wirkt – und zwar einschränkend. Aber digitales Lehren und Lernen kann viel mehr: mobiles Lernen unterstützen, situatives Lernen ermöglichen, aber auch ganz klassische Präsenzszenarien mit digitalen Mitteln anreichern. Das alles bringt einen Mehrwert.
Schumann: Es gibt verschiedene Auslegungen, was die Begrifflichkeiten betrifft. Mit dem „Eckpunktepapier digitaler Lehre“ haben wir an der Uni Potsdam eine Empfehlung, wie die Begriffe verstanden und genutzt werden können. Darüber hinaus bleibt aber je nach Kontext eine gegenseitige Verständigung notwendig.
van Kempen: Mit dem Begriff E-Learning fing die Entwicklung an. Und die ersten Schritte wurden nicht durchweg als segensbringend aufgenommen. Vieles musste erst mühsam etabliert werden und sich beweisen. Dem Begriff „E-Learning“ hat das eher geschadet.
Lucke: Dass inzwischen eher von digitaler Lehre gesprochen wird, zeigt, dass wir alles, was dazugehört, umfassender denken.
Was von dem, was grundsätzlich möglich ist, ist an der UP schon „machbar“ oder gar „Standard“ – und wovon sind wir noch mehr oder weniger weit entfernt?
Schumann: Grundlegend sind wir technisch gut ausgestattet, die zentrale E-Learning-Plattform ermöglicht es, auf verschiedenen Wegen zusammenzuarbeiten. Und auch innovative Szenarien sind möglich, etwa mithilfe von Virtual-Reality-Technologien oder Audience-Response-Systemen. Was das Thema Künstliche Intelligenz angeht, da sind wir auf dem Weg. Hier müssen wir noch einige technische Voraussetzungen schaffen.
Lucke: Ich würde einschränkend sagen: Das ist „yet another hype“. Und es werden andere kommen. Für uns ist wichtig, dass wir die Kultur und Strukturen an der Hochschule so gestalten, dass wir auf Veränderungen reagieren und Neuigkeiten implementieren können – ohne uns jedes Mal neu zu erfinden. Das gelingt uns ganz gut.
van Kempen: Absolut. Das Überraschungsmoment durch KI war kurz, weil wir schnell reagieren und uns schnell auf eine Position einigen konnten. Das Netzwerk der E-Learning-Steuerungsgruppe und die gute Zusammenarbeit in der Hochschule sind ein Pfund!
Kostädt: Tatsächlich wurde uns das bei einer Peer-to-Peer-Strategieberatung durch Expert*innen anderer Hochschulen auch von extern bestätigt: Gelobt wurden dabei unsere innovative Kultur und Entwicklungstools, die uns helfen, neue Technologien, Szenarien und Ansätze zu erproben, aber auch unsere Supportstrukturen und der sehr gute Austausch der beteiligten Akteure.
van Kempen: Hier haben wir aus den Anfangsjahren gelernt und die Steuerungsgruppe breiter aufgestellt, um wirklich alle Stakeholder zusammenzuführen. Wo ist noch Luft nach oben? Während wir in Sachen Software und digitale Plattformen gut aufgestellt sind, ist und bleibt die Ausstattung mit Geräten – und ihre Wartung – ein Thema.
Kostädt: Tatsächlich ist es finanziell gesehen nicht realisierbar, in jeden Lehrraum alle technischen Möglichkeiten zu installieren. Vielmehr müssen wir gut planen. Was benötigen die Lehrenden? Was muss in welchen Räumen bereitgestellt werden? Zudem ist vorausschauende Planung gefragt, damit wir Räume so ausstatten, dass sie in fünf bis zehn Jahren sinnvoll ergänzt oder erneuert werden können.
Lucke: Auch in Sachen E-Prüfung sind andere schon weiter als wir. Ich bin durchaus ein bisschen neidisch auf Universitäten, die etwa ein E-Prüfungszentrum eingerichtet haben. Damit könnten wir Lehrende unterstützen und individuelles Lernen ermöglichen.
In der neuen E-Learning-Strategie heißt es, der „Einsatz von digitalen Medien in der Lehre soll didaktisch begründet sein“. Wann und wie ist er das?
Lucke: Manche kaufen ein Auto nach der Farbe oder danach, wie es klingt. Ich denke, entscheidend sollte der Nutzwert sein. Das gilt auch für die Digitalisierung von Lehre. Sie soll die Zielgruppe beim Lernen unterstützen: Etwa indem sie mehr Orientierung bietet, Alternativen aufmacht und das Lernen an unterschiedliche Lebenslagen anpasst.
van Kempen: Diese lebenspraktische Ebene ist das Eine, dazu kommt die didaktische: Digitale Lehre soll entsprechende Kompetenzen aufbauen. Aber, das sage ich immer wieder, wir sind eine Präsenzuniversität und bleiben das auch. Digitalisierung kommt dort zum Einsatz, wo die Lehre Komponenten beinhaltet, die besser mit digitalen Tools umgesetzt werden.
Lucke: Und das lässt sich weiter differenzieren: Digitale Lehre kann Studierende gezielt bei Problemen unterstützen, ohne dass diese Anpassung alle betrifft, oder unterschiedliche Angebote machen, die in Kleingruppen oder ganz individuell genutzt werden.
Umgekehrt könne, so heißt es, ein „umfassender und nachhaltiger Einsatz von E-Learning kann zur Entwicklung der Qualität in Studium und Lehre beitragen“. Wie?
Lucke: Wenn ich mir – im Angesicht neuer digitaler Möglichkeiten – Gedanken darüber mache, warum ich so lehre, wie ich lehre, ist das schon ein Beitrag zur Qualität.
Schumann: Überlegungen, wie sich digitale Medien sinnvoll einsetzen lassen, bieten einen guten Anlass, über Lehre im Allgemeinen nachzudenken. Lehre sollte sich immer auf die Lernenden und ihr Lernen beziehen und sie dabei unterstützen. Wege zu finden, wie sich digitale Tools sinnvoll und fachspezifisch einsetzen lassen, ist unser aller Aufgabe.
Kostädt: Gleichzeitig ist es wichtig, auch auf Probleme hinzuweisen. Vieles, was aktuell auf uns zukommt, geht nicht konform mit der Datenschutz-Grundverordnung. Das macht es für uns schwierig, manche Tools in der Lehre einzusetzen. Hier gilt es, die Lehrenden und Studierenden zu sensibilisieren und über Risiken und Einschränkungen zu informieren.
van Kempen: Wie gesagt fördern wir auf diesem Weg auch die Medienkompetenz der Studierenden. Gerade in der Lehrkräftebildung ist das eine wichtige Schulung. Ich erwarte von unseren Lehrenden, dass sie sich mit ihren Studierenden, künftigen Lehrerinnen und Lehrern, damit auseinandersetzen. Wie gehen sie später damit um, wenn ihre Schülerinnen und Schüler mit einem Tool schon zwei Schritte weiter sind als sie selbst? Sie sollten es deshalb nicht verteufeln, sondern dieses Interesse sinnvoll nutzen. Allerdings ist es schwer vorstellbar, dass es einen allgemeinen Standard geben kann. Dafür sind die Anforderungen der Fächer zu verschieden.
Schumann: Auch, wenn es kein zentrales Portfolio gibt, können wir doch Beschreibungen für die verschiedenen Kompetenzen entwickeln – die den Fächern als Anregungen für eigene Formulierungen dienen können.
Lucke: Ich würde die Frage nach der Entwicklung nötiger Medienkompetenz aber auch auf die Lehrenden ausdehnen. Das Land sagt, um berufen zu werden, braucht es die didaktische Eignung. Ich denke, das sollte inzwischen auf Medienkompetenz ausgedehnt werden. Deshalb haben wir auf jeden Fall auch die Lehrenden im Blick.
Gab es im Aufbau digitaler Lehre an der UP große Sprünge oder eher eine kontinuierliche Entwicklung?
Lucke: Ich habe das nicht so sehr als Abfolge sequenzieller Schritte wahrgenommen, sondern eher als Kulturwandel. Zu Beginn gab es so etwas wie eine Koalition der Willigen, aber inzwischen sind immer mehr UP-Angehörige an Bord. Das ist eine Transformation, die noch im Gange ist.
van Kempen: Aber die Corona-Pandemie war schon eine Zäsur …
Lucke: Ich habe das gar nicht so sehr als Bruch verstanden. Wir haben uns nur eben online getroffen, häufiger und mit ein bisschen mehr Druck von außen.
van Kempen: Spannend … Für mich, von außen kommend, war das schon so: Wow! Auf einmal arbeiten alle zusammen, eLiS, EDUC, ZfQ. Alle ziehen an einem Strang, manche zum ersten Mal.
Kostädt: Das stimmt, der Kreis der Beteiligten wurde größer und bei der E-Learning-Steuerungsgruppe liefen alle Fäden zusammen.
van Kempen: Und auf einmal kamen die Fakultäten dazu. Was früher als Zwangsbeglückung begriffen worden war, wurde plötzlich aktiv nachgefragt.
Kostädt: Von außen betrachtet lassen sich gleichwohl Entwicklungsschritte ausmachen: In den vergangenen Jahren wurden viele Unterstützungsstrukturen aufgebaut. Jetzt gilt es, Angebote, Akteure und Lehrende besser zu vernetzen. Dafür wurde beispielsweise für den gesamten Themenbereich Open Science eine zentrale Webseite als Single Point of Contact eingerichtet, damit Lehrende nicht immer suchen müssen, wer wofür zuständig ist.
Wer treibt „digitale Lehre“ an der UP voran?
van Kempen: Das ist eine durch und durch gemeinschaftliche Anstrengung. Es gibt gemeinsame Initiativen von Lehrenden, von zentralen Akteuren und Einrichtungen, den E-Learning-Koordinator*innen und der Hochschulleitung. Alle Rädchen im Getriebe greifen ineinander.
Lucke: Ideen und Projekte sprießen gefühlt wie Pilze aus dem Boden. Das ist super spannend, aber natürlich auch anstrengend. Manches verschwindet wieder, und was sich dauerhaft durchsetzen soll, muss gepflegt werden. Unsere Aufgabe ist es, Unkraut und Gewürz zu unterscheiden.
Der Zwang zur Online-Lehre während der Corona-Pandemie hat digitalem Lernen einen Schub gegeben. Wie nachhaltig ist er?
Lucke: Tatsächlich wurde schon vorher ganz viel ausprobiert …
van Kempen: Aber wir hätten ohne die Pandemie nie einen Kanzler dazu gebracht, Zoom anzuschaffen.
Lucke: Die Möglichkeit, Videokonferenzen durchzuführen, gab es bereits.
van Kempen: Das stimmt. Aber die verfügbaren DFN-Konferenzen waren furchtbar, die hätte man nie in der Lehre eingesetzt. Außerdem wären die rechtlichen Grundlagen für E-Prüfungen nicht so schnell geschaffen worden.
Kostädt: Die Pandemie sorgte auch für einen Schub finanzieller Art, der vieles ermöglicht hat. Zudem bin ich überzeugt, wir wären bestimmte Dinge auch später nicht angegangen, hätte nicht jemand in der Ausnahmesituation den Mut gehabt, sie auszuprobieren. In Sachen Homeoffice wären wir ohne Pandemie vielleicht auch in fünf Jahren nicht so weit, wie wir es jetzt sind.
Lucke: Ich bin da optimistischer. Die Fakultäten waren schon vorher experimentierfreudig. Der Druck zur Veränderung wäre gekommen.
van Kempen: Gut ist: Weil die Veränderungen von heute auf morgen kamen, mussten alle damit leben, dass es imperfekt war. Das brachte eine lobenswerte Fehlerkultur mit sich – und den Mut Unbekanntes auszuprobieren.
Lucke: Diese Kultur sollte einer Universität eigentlich eingeschrieben sein. Forschung geht nur mit Fehlern … Ein Erkenntnismoment gibt es nur durch vorherige Irritation. „Aha“ gibt es nur durch „nanu?“.
Schumann: Viele Lehrenden sind diesbezüglich noch eher zurückhaltend, über Fehler redet man nach wie vor nicht gern. Das müssen wir weiter fördern.
van Kempen: Bei der Förderung innovativer Lehrprojekte versuchen wir das ja schon zu integrieren, indem wir Feedback dazu einsammeln, was geklappt hat, was nicht.
Die aktuell finalisierte „E-Learning-Strategie 2023–2028“ ist Bestandsaufnahme nach Corona und Zielsetzung zugleich. Was sind die wesentlichen Ziele?
van Kempen: Wir möchten mithilfe der Digitalisierung unsere Lehre internationaler gestalten – in der EDUC-Allianz etwa, oder auch mit COIL, das es ja schon länger gibt. Auf diesem Wege sollen Studierende ihre Mobilität leichter beginnen können. Wir schaffen mithilfe internationaler digitaler Lehre viele kleine Bausteine, die die Studierenden und Lehrenden näher zusammenbringen. Da werden wir in den kommenden Jahren eine schnelle Entwicklung sehen. Aber: Ich bin ungeduldig, mir geht es nicht schnell genug. Das ist den sehr unterschiedlichen Voraussetzungen der Akteure geschuldet, auch den rechtlichen. Die einen dürfen Zoom benutzen, die anderen WebEx, aber umgekehrt gar nicht und so weiter. Da ist noch viel Luft nach oben. Zum Glück haben wir in EDUC und darüber hinaus viele Lehrende, die geübt sind im kreativen Umgang mit den Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung stehen. Klar ist: Wir brauchen ein gewisses Grundgerüst an gemeinsamen Rahmenbedingungen. Sonst können wir nicht über den Gartenzaun gucken …
Lucke: Wir müssen auch darauf hinarbeiten, Innovationen besser aufzunehmen: sie erkennen, aufspüren, prüfen und unterstützen, wo es sinnvoll ist. Wir brauchen Strukturen, die das können.
Schumann: Zudem geht es um die stetige Weiterentwicklung der digitalen Lehre unter Bezugnahme auf zu erarbeitende Qualitätskriterien und akademische Medienkompetenzen. Eine Kultur des Austauschs und der Vernetzung über alle Statusgruppen hinweg spielt hierbei eine wesentliche Rolle.
Kostädt: Ein weiteres Ziel ist, das Thema Openness in die Lehre zu bringen. Während wir etwa bei Open Access, Open Research Data und Open Research Software auf einem guten Weg sind, hängen wir bei Open Educational Resources noch etwas hinterher.
Was sind die „erforderlichen organisatorischen Voraussetzungen und Strukturen innerhalb der Universität“, die es für die Weiterentwicklung braucht, und wie werden sie geschaffen?
Lucke: Bislang sind wir beim Einwerben von innovativen Projekten gut, beim Überführen von Projekten, die sich bewährt haben, in dauerhafte Strukturen noch nicht. Das schmerzt.
Kostädt: Das sind die berühmten Governance-Strukturen, die es braucht, um Innovation in die langfristige Praxis zu bringen. Wichtig ist, dass wir diese Strukturen so anlegen, dass für alle nachvollziehbar ist, warum wir einiges verstetigen, anderes nicht, wofür es zentrale Angebote gibt, wofür nicht.
Lucke: Dafür sehe ich viel Potenzial in hochschulübergreifende Kooperationen, denn vieles lässt sich etwa zusammen mit den anderen brandenburgischen Hochschulen gemeinsam angehen. Dafür haben wir mit dem Zentrum der Brandenburgischen Hochschulen für Digitale Transformation (ZDT) ein Super-Instrument.
Mehr zu
Digitaler Lehre an der Universität Potsdam: https://www.uni-potsdam.de/de/zfq/leitbildlehre/eckpunkte-digitaler-lehre
Open Science an der Universität Potsdam: https://www.uni-potsdam.de/de/openscience
E-Learning-Strategie 2023–2028: https://doi.org/10.25932/publishup-64326