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Wirklich heterogen statt (nur) inklusiv – Camilla Rjosk will die Schulentwicklung auf viele Füße stellen

Prof. Dr. Camilla Rjosk während des Interviews.
Buntstifte liegen nebeneinander auf einem Tisch.
Photo : Thomas Roese
Prof. Dr. Camilla Rjosk leitet seit 2021 die Nachwuchsforschungsgruppe „Multidimensionale Heterogenität im Klassenzimmer: Messung, Effekte, Mechanismen“ (MuHiK).
Photo : AdobeStock/BARLOP
Heterogenität wirkt positiv – auch im Klassenzimmer.

Wie kann Schule besser werden? Wie sollten Schülerinnen und Schüler künftig lernen? Was Lehrende vermitteln? Diese Fragen werden immer wieder intensiv diskutiert, Neuerungen eingeführt, Reformen initiiert. Doch der Erfolg lässt auf sich warten. In der aktuellen Ausgabe der PISA-Studie schneidet Deutschland so schlecht ab wie nie zuvor, während die Bildungsungerechtigkeit im Land weiter zunimmt. Camilla Rjosk ist seit April 2023 Professorin für Schulentwicklung an der Universität Potsdam. Sie hat sich vorgenommen, in die Suche nach Lösungen die einzubeziehen, die ganz nah dran sind: die Schulen, Lehrkräfte und Schulleitungen.

„Die Schulen sollten selbst als Expertinnen wahrgenommen und in die Weiterentwicklung schulischer Bildung einbezogen werden“, sagt die Bildungswissenschaftlerin. „Damit sie sich den Herausforderungen nicht nur stellen müssen, sondern auch beeinflussen können, wie sie angegangen werden.“ Im Moment sei genau das nicht der Fall. „Wir alle wollen Schülerinnen und Schüler fördern und bestmöglich auf ihr späteres Leben vorbereiten“, so Rjosk. „Aber nicht nur fachlich, sondern auch darüber hinaus – damit sie Teil einer Gesellschaft sein können, die nicht nur leistet, sondern auch Werte vertritt.“ Dem würden viele zustimmen, ist sie sich sicher. Allein, der Weg dorthin ist umstritten.

Schulen in die Forschung einbeziehen

Diversität, Digitalisierung, Heterogenität – die Felder, in denen sich viel bewegt und die heiß diskutiert werden, sind deutlich umrissen. Auch wohin die Reise gehen soll, scheint klar: Der Unterricht muss diverser, digitaler, heterogener werden. „Aktuell verändert sich sehr viel und von den Schulen wird sehr viel verlangt“, so die Forscherin. „Das ist enorm schwer zu orchestrieren – und dabei werden sie selbst wenig einbezogen.“ Das will Camilla Rjosk ändern. Sie plant, ein Netzwerk zu Schulen aufzubauen, mit denen gemeinsam sie Ideen diskutieren, Konzepte entwickeln und erproben will.

Gleichzeitig hofft die Bildungswissenschaftlerin, auf diese Weise die Ergebnisse ihrer Forschung dorthin zu bringen, wo sie gebraucht werden. Denn einer ihrer Schwerpunkte ist die sogenannte „Multidimensionale Heterogenität im Klassenzimmer“. Seit 2021 leitet sie eine Nachwuchsforschungsgruppe mit diesem Titel, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. Mit ihrem Team untersucht die Bildungsforscherin, wie man Heterogenität messen kann, wie sie sich auswirkt und bestenfalls gewinnbringend nutzen lässt. „Ich würde mir wünschen, dass Inklusion und Heterogenität künftig stärker zusammengedacht werden“, sagt Rjosk. Lange sei Inklusion eine Art Synonym für den Transfer der Sonderpädagogik in den normalen Unterricht gewesen. „Doch echter inklusiver Unterricht muss sehr viel mehr Unterschiede berücksichtigen, um die Schülerinnen und Schüler besser zu fördern – einzeln und gemeinsam.“ Hier komme die Heterogenität ins Spiel: Sozialer Status, Herkunft, Geschlecht, Sprache, Begabung – viele Facetten beeinflussen, wie Kinder lernen. Im Unterricht wurden sie indes lange nicht berücksichtigt. Und wenn doch, dann eher als Faktoren, die einem gelingendem Unterricht im Wege stehen. Dabei bringe Heterogenität im Klassenzimmer einen wichtigen Mehrwert, ist Camilla Rjosk überzeugt. „Guter Unterricht weiß die Vielfalt als Ressource zu nutzen“, sagt sie. „Die Kinder sollten auch voneinander lernen und sich gegenseitig unterstützen.“ Das helfe ihnen letztlich sowohl mit Blick auf schulische Leistungen als auch bei der Sozialentwicklung. „Dadurch lernen sie, was echte Vielfalt ist. Das wird später im Leben viel schwerer, weil man sich dann eher aussucht, mit wem man sich umgibt.“

Den Mehrtwert der Heterogenität nutzen

Guter inklusiver Unterricht sollte differenzieren und zugleich die Gemeinsamkeiten betonen, erklärt die Forscherin. Im Idealfall können Lehrende aus einer Sammlung von Lehrmaterialien jeweils jene auswählen, die den Interessen, dem Wissensstand und den Lerntypen der Schülerinnen und Schüler entsprechen. Gleichzeitig brauche es mehr Arbeit zu zweit oder in Gruppen, an Projekten – Formate, in die „alle ihre ganz eigenen Fähigkeiten und Kenntnisse einbringen können“. Das müsse freilich gut vorbereitet, angeleitet und evaluiert werden.

Auf dem Weg in diese Zukunft inklusiven Unterrichts will Camilla Rjosk die Schulen begleiten. Dafür erarbeitet sie Verfahren, mit denen sich Heterogenität in Schulklassen erfassen lässt. „Aber wie lassen sich die einzelnen Facetten definieren? Wie beeinflussen sie einander? Und wie beeinflussen sie das Lernen, die Motivation und schulische Leistungen? Fragen, die Camilla Rjosk schon seit ihrem Promotionsprojekt umtreiben. Für ihre Doktorarbeit hat sie untersucht, ob es sich auf das Lernen auswirkt, wer mit wem in einer Klasse lernt. Konkret schaute sie auf die drei Faktoren Schulleistung, sozialer Hintergrund und Migrationserfahrung. „Ich konnte zeigen, dass die soziale Zusammensetzung der Schulklasse wichtiger für die Leistungsentwicklung ist als der Anteil von Heranwachsenden mit Migrationshintergrund und der Unterricht in unterschiedlich zusammengesetzten Klassen dazu beiträgt“, sagt sie. An diesen ersten Blick in das große Feld der Heterogenität knüpft sie nun mit ihrer Forschungsgruppe an. Deren Ziel ist es, Heterogenität in Schulen künftig anhand mehrerer Dimensionen zu erfassen: Herkunft, sozialer Status, Geschlecht, Leistung und sonderpädagogischer Förderbedarf sind die Facetten, die sie unter anderem berücksichtigen wollen. Aktuell wenden sie Methoden zur Beschreibung der Heterogenität aus verschiedenen Disziplinen an und entwickeln ein theoretisches Modell zu Effekten der Heterogenität im Klassenzimmer. Außerdem sammeln sie Forschungsliteratur, die es zu einzelnen Facetten schon gibt, für sogenannte Metaanalysen. Zum Einfluss ethnischer Herkunft auf schulische Leistungen beispielsweise wurde bereits viel geforscht. Diese Erkenntnisse greifen die Bildungswissenschaftler*innen auf. Anschließend führen sie alles zusammen, um Instrumente zu entwickeln, mit denen sich dann Forschungsprojekte zu einer vielschichtigen Heterogenität durchführen lassen. „Im Idealfall machen wir das dann schon gemeinsam mit Schulen, die auch einbringen, wie sie Heterogenität wahrnehmen, wie sie damit umgehen und wie sie sie nutzen – zum Vorteil der Schülerinnen und Schüler“, so Camilla Rjosk.

Die Forscherin

Prof. Dr. Camilla Rjosk leitet seit 2021 die Nachwuchsforschungsgruppe „Multidimensionale Heterogenität im Klassenzimmer: Messung, Effekte, Mechanismen“(MuHiK), die sie mitbrachte, als sie Anfang 2023 als Professorin für Schulentwicklung an die Universität Potsdam wechselte.
E-Mail: camilla.rjoskuni-potsdamde

Das Projekt

Nachwuchsforschungsgruppe „Multidimensionale Heterogenität im Klassenzimmer: Messung, Effekte, Mechanismen“ (MuHiK)
In dem fünfjährigen Projekt untersuchen die Forschenden, wie die Heterogenität der Schülerschaft anhand mehrerer Merkmale gemessen werden kann und wie Heterogenität mit den Leistungen und psychosozialen Merkmalen von Schüler*innen zusammenhängt. Das Projekt wird im Rahmen der Richtlinie zur Förderung von „Nachwuchsforschungsgruppen in der empirischen Bildungsforschung“ durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.

Link zum Projekt: https://www.uni-potsdam.de/de/schulentwicklung/forschung/muhik

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2024 „Bildung:digital“ (PDF).