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Brille auf – Wie Weiterbildung im 21. Jahrhundert aussehen kann

Der für das Projekt geschaffene VR-Raum aus der Vogelperspektive.
Weiterbildung wird digital(er)
Image : Forschungsprojekt API-KMU
Der für das Projekt geschaffene VR-Raum aus der Vogelperspektive.
Photo : AdobeStock/Bipul Kumar
Weiterbildung wird digital(er)

Lernen mit VR-Brille und Podcast? Für viele längst Realität. Weiterbildung in einer interaktiven virtuellen Fabrik? Klingt toll! Aber auch für jedermann? Können auch ältere Beschäftigte, die mit den großen Schritten der Digitalisierung nicht Schritt halten wollen oder können, von ihren Vorteilen profitieren? Ja, sagen Wirtschaftsinformatiker der Universität Potsdam. Sie haben gemeinsam mit Praxispartnern eigene virtuelle Lernumgebungen entwickelt und getestet. Ihr Fazit: Interaktive Bildungsformate können kleineren Unternehmen helfen, ihren Beschäftigten zeitgemäße Weiterbildung anzubieten. Sie müssen aber didaktisch und technisch gut gemacht sein, um nicht als „gut gemeinte“ Ansätze auf der Strecke zu bleiben.

Die Digitalisierung verändert unsere Arbeit, aber ebenso die Wege, auf denen wir uns dort bzw. darüber Wissen aneignen – also, wie wir uns weiterbilden. Dabei wird dieses Feld vielerorts stiefmütterlich behandelt, weil die Ressourcen oftmals fehlen. Zudem kommen technologische Neuerungen hier erst relativ spät zum Zug, da ihnen viele ältere Beschäftigte wenig aufgeschlossen gegenüberstehen – oder ihnen genau das nachgesagt wird. Dabei könnten neue Bildungstechnologien besonders den Menschen gut helfen, die längere Unterbrechungen in ihrer Bildungsbiografie haben. Immerhin ermöglichen sie sehr individuelles Lernen – im eigenen Tempo, mit intuitiven Zugängen und auf persönliche Bedürfnisse zugeschnitten.

Altersgerechte virtuelle Lernräume schaffen

„Bislang werden ältere Beschäftigte in Sachen Weiterbildung oft vernachlässigt“, sagt Malte Teichmann. „Dabei ist es gerade für sie wichtig, sich zu qualifizieren, damit sie mit der Digitalisierung Schritt halten können. Zudem sind kleine und mittelständische Unternehmen oft auf das Erfahrungswissen dieser Beschäftigten angewiesen und sollten sich gut überlegen, diesen Erfahrungsschatz durch fehlende Weiterbildungsangebote aus der Hand zu geben.“ Der Wissenschaftler arbeitet am Lehrstuhl Wirtschaftsinformatik von Prof. Dr. Norbert Gronau und hat gemeinsam mit Jana Gonnermann und Georg Ritterbusch erforscht, wie „altersgerechte, prozessnahe und interaktive betriebliche Weiterbildung“ für kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) künftig aussehen könnten. Ihr Fokus lag dabei auf sogenannten VR-Technologien, also Hilfsmitteln, die eine virtuelle Realität abbilden und es ermöglichen, mit ihr zu interagieren. „Diese Technologien haben gleich mehrere Vorteile, die – richtig eingesetzt – eine alters- und bedarfsgerechte Weiterbildung enorm verbessern können“, so Malte Teichmann. Grundsätzlich lassen sich mithilfe von VR-Brillen beispielsweise Krisenszenarien abbilden, die sich in echt kaum oder nur mit sehr großem Aufwand nachstellen lassen. Die Beschäftigten können darin trainieren, wie solche brenzligen Situationen bewältigt werden können. „Außerdem bieten virtuelle Lernräume große Freiheiten. Man kann darin individuellen Interessen nachgehen, langsam arbeiten, auch mal etwas wiederholen und das Wissen auf ganz unterschiedlichen Wegen als Text, Video oder Podcast aufnehmen. Im Idealfall lässt es sich auch gleich interaktiv anwenden“, so der Forscher.

Die Forschenden wollen das in ihrem Projekt modellhaft entwickeln – und zwar im Idealfall so, dass es sich später für möglichst viele verschiedene Unternehmen anpassen lässt: eine Baufirma ebenso wie einen Maschinenbauer oder einen Obstanbaubetrieb. Eine Art Baukasten also, der die wichtigsten Elemente enthält, die VR-Weiterbildungen haben sollten: eine standardisierte virtuelle Lernumgebung, die zugleich sehr wandelbar ist, und einzelne Bausteine, die sich ohne allzu großen Aufwand aus den konkreten Wünschen der Firmen erstellen lassen. „Uns war von Beginn an klar: VR-Technologien bieten tolle Potenziale für Lernprozesse“, sagt Malte Teichmann. „Aber wir wussten auch, dass sie keine Selbstläufer sind. Dafür müssen alle wichtigen Akteure an den Tisch – aus der Forschung, der Technologieentwicklung und vor allem der Praxis. Denn die Lösungen müssen sich an den Bedürfnissen der KMUs orientieren.“

Für ihr Projekt haben sich die Wissenschaftler deshalb Partner gesucht: Experten aus der Erwachsenenbildung und zur VR-Technologie sowie Unternehmen, die willens waren, den Weg zur VR-Weiterbildung mitzugehen. Darunter waren ein Maschinenbauer, ein Bauunternehmen sowie eine Firma für Fenstertechnik. Nach ihren Anforderungen sollten die digitalen Bildungsräume ausgestaltet werden.

Da diese schon bei den drei Unternehmen recht weit auseinandergingen, arbeiteten der Wirtschaftsinformatiker und seine Kollegen in einem ersten Schritt eine Schablone dafür aus, relevante Wissensinhalte möglichst strukturiert zu erfassen und in ein sogenanntes Lastenheft zu übertragen. Außerdem machten sie sich daran, das bislang noch recht sparsam bestellte Feld der Bildung mit VR-Instrumenten zu vermessen. „Wir haben viel Zeit in die theoretischen Grundlagen investiert, die relevante Literatur, zu Wissensarten und -typen zusammengetragen, haben geschaut, wie Menschen lernen – und dann überlegt, wie VR-Instrumente dazu passen“, so Teichmann. „Denn technologische Innovation allein macht keine gute Bildung – es geht darum, sie didaktisch klug einzusetzen.“

Prototyp mit Lerneffekt

Dafür entwickelte das Team einen ersten Prototyp – einen virtuellen Lernraum –, der dann von Beschäftigten der beteiligten Unternehmen ausgiebig getestet wurde. Beispielsweise überführten sie komplette Produktionsprozesse in die VR-Umgebung. „Die Arbeit an den Prototypen war für uns eine spannende und sehr lehrreiche Zeit, auch mit Sackgassen“, sagt der Forscher. „So haben uns die Testpersonen zu unserer Überraschung zurückgemeldet, dass sie sich im Lernprozess bzw. im Lernraum nicht zu viel Freiheit wünschen.“ Das Feedback floss kontinuierlich in die Überarbeitung des Prototypen: So kamen Wände hinzu, die ihn stärker strukturierten, und Schilder, mit denen einzelne Stationen benannt und beschrieben wurden. „Dass die Menschen sich mehr Führung und Lenkung in ihrer Lernreise wünschen, war die erste wichtige Erkenntnis, die wir in der weiteren Gestaltung berücksichtigt haben“, so Teichmann. Die Zweite: VR-Technologien ermöglichen ein sehr individuelles Lernen, Simulationen lassen sich einfach wiederholen, Podcasts noch einmal abspielen, Stationen aber auch überspringen. Und die Dritte: „Neben dem didaktischen Rahmen und den Praxisanforderungen muss immer die technische Machbarkeit mitgedacht werden. Wir haben die Möglichkeiten der Technologie richtig eingeschätzt. Aber noch ist es enorm herausfordernd, sie auch voll zur Geltung zu bringen.“ Bislang mussten die Elemente einer virtuellen Lernumgebung noch von Entwicklern programmiert werden, weitgehend in Handarbeit. Eine Rotationsmaschine für die Klebebandproduktion etwa, die einem Fensterbauer wiederum nicht hilft. Von einem Baukasten kann dabei noch keine Rede sein. „Aber generative KI wird hier in den kommenden Jahren vieles erleichtern“, ist sich der Forscher sicher.

Für das Modellprojekt hat sich der Aufwand jedenfalls gelohnt: „Selbst Beschäftigte, die schon sehr lange an den Maschinen arbeiten, die wir in VR nachgebaut haben, waren begeistert – weil sie endlich einen Blick auf den Gesamtprozess erhalten haben und das Verständnis dafür, welchen Beitrag sie dazu leisten.“ Und Malte Teichmann sieht für den Einsatz kaum Grenzen: So ließe sich mit den VR-Instrumenten eine Weiterbildung „schneidern“, die neue Beschäftigte oder solche, die den Arbeitsplatz wechseln, einarbeitet. Außerdem könnte Wissen auch den umgekehrten Weg gehen: Menschen, die sehr lange im Unternehmen arbeiten und ihre Erfahrung weitergeben sollen, könnten die Lernumgebung testen. Ihr Feedback würde anschließend dazu dienen, sie weiterzuentwickeln.

Vom Ergebnis ihres Modellprojekts sind übrigens nicht nur Malte Teichmann und seine Kolleg*innen begeistert. Auch die Unternehmen setzen die Module in unterschiedlichen Funktionen ein. Und die Forschenden haben mit Praxispartnern bereits ein Folgeprojekt auf den Weg gebracht. „Als nächstes wollen wir schauen, wie verschiedene VR-Räume miteinander interagieren können und wo Anschlussmöglichkeiten zu anderen Technologien bestehen“, so der Forscher.

Zum Projekt: https://lswi.de/forschung/forschungsprojekte/api-kmu

Das Projekt

Gestaltung altersgerechter, prozessnaher und interaktiver betrieblicher Weiterbildung in KMU durch den Einsatz von AR-Technologien
Laufzeit: 2020–2022
Beteiligt: Jana Gonnermann, Georg Ritterbusch, Malte Teichmann
Förderung: BMBF, ESF, EU

Die Forschenden

Jana Gonnermann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Wirtschaftsinformatik, insb. Prozesse und Systeme.
E-Mail. jana.gonnermannwi.uni-potsdamde

Georg Ritterbusch ist seit 2023 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Wirtschaftsinformatik, insb. Prozesse und Systeme.
E-Mail: georg.ritterbuschwi.uni-potsdamde

Malte Teichmann ist seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Wirtschaftsinformatik, insb. Prozesse und Systeme.
E-Mail: malte.teichmannwi.uni-potsdamde

Zum Weiterlesen

Malte Teichmann, Jana Busse, Jana Gonnermann, Georg Ritterbusch, Ines Langemeyer, Norbert Gronau, Konzeption, Erstellung und Evaluation von VR-Räumen für die betriebliche Weiterbildung in KMU – Erfahrungen und Handlungsempfehlungen aus dem Forschungsprojekt API-KMU, Digitalisierung der Arbeitswelt im Mittelstand 3, 2023, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67024-8_5

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2024 „Bildung:digital“ (PDF).