Sie haben zu Arbeitsmigration aus Afrika in die „Zweite Welt“ geforscht. Was genau ist darunter zu verstehen?
Der Begriff stammt aus der Zeit des Kalten Krieges. Während die erste und zweite Welt die Länder des Ost- und West-Blocks bezeichneten, die einander feindlich gegenüberstanden, waren als dritte Welt all jene Länder gemeint, die sich keinem der Blöcke zugehörig fühlten und damit blockfrei waren. Im Laufe der Zeit wurde der Begriff zum Synonym für Staaten, die von Armut geprägt und wenig entwickelt waren. Heute sprechen wir vom globalen Süden. Viele von ihnen befinden sich in Afrika. Die Beziehungen zwischen erster, zweiter und dritter Welt werden aktuell recht intensiv erforscht. Mich interessiert vor allem das Verhältnis afrikanischer Länder zur DDR. Über Jahrzehnte hinweg gingen Menschen aus Afrika, vor allem Mosambik und Angola, in den deutschen Osten, um dort zu arbeiten oder eine Ausbildung zu absolvieren, während die DDR immer wieder Expertinnen und Experten in afrikanische Länder entsandte.
Wie würden Sie dieses Phänomen in zwei Sätzen beschreiben – und bewerten?
Ich habe mich in den vergangenen Jahren intensiv mit der Arbeitsmigration beschäftigt: Zwischen den 1950er und 1990er Jahren kamen viele junge Menschen zwischen 18 und 35 Jahren in die DDR, um dort zu arbeiten und sich neues Wissen anzueignen. Sie wollten und sollten nicht als ungelernte Arbeitskraft eingesetzt werden, sondern mit einem Facharbeiterdiplom in ihre Heimat zurückkehren. Auf diese Weise sollte damals auch Entwicklungshilfe geleistet werden, denn sie hätten, heimgekehrt, entsprechende Industrie aufbauen können. Der Konjunktiv zeigt es an: Daraus wurde zumeist nichts. Die Gründe sind zahlreich: In vielen afrikanischen Ländern verhinderten Konflikte, Misswirtschaft und Bürgerkriege diese Pläne. Aber auch aufseiten der DDR gab es Interessen, die wenig mit Entwicklungshilfe zu tun hatten. Das Land litt eigentlich immer unter Arbeitskräftemangel. Diesem hoffte man durch den „Import“ von Arbeiterinnen und Arbeitern aus der dritten Welt entgegenzuwirken. Auf diese Weise sollte auch durch preiswerte Arbeitskräfte die eigene Wirtschaft subventioniert werden.
Diese Entwicklungen habe ich untersucht. Dabei interessierte mich aber weniger die staatliche Ebene, sondern, wie die Arbeiterinnen und Arbeiter sie selbst erlebt haben. Für eine Bewertung ist ihr Blick „von unten“ wichtig. Und es ist ein sehr vielseitiger Blick, mal nostalgisch auf die Zeit als Abenteuer, mit Stolz, in Europa gelebt zu haben, mal kritisch mit dem Gefühl, ausgebeutet worden zu sein, denn nicht wenige warteten, heimgekehrt, vergeblich auf die Auszahlung von Löhnen, die einbehalten wurden. Dieses vielschichtige Urteil lässt sich durchaus auf die große „Bühne“ übertragen: In gewisser Weise war diese Arbeitsmigration ein gutes Programm, das einen wirtschaftlichen und kulturellen Austausch ermöglicht hat. Aktuell ist dergleichen nicht denkbar. Angolanerinnen und Angolaner können nicht mehr so einfach legal ungelernt nach Deutschland kommen. Gleichzeitig gibt es vieles zu bemängeln, etwa, dass in den afrikanischen Ländern den Heimkehrenden systematisch Lohnzahlungen vorenthalten wurden. Oder auch, dass in vielen Betrieben der DDR, vor allem zum Ende der 1980er Jahre, die Aus- und Weiterbildung der ausländischen Arbeitskräfte komplett vernachlässigt wurde, vom Rassismus, der gerade nach der Wende in vielen Betrieben hervorbrach, ganz zu Schweigen.
Wie kamen Sie zu dem Thema?
Ich war während meiner Zeit in Princeton für einen Forschungsaufenthalt in Mosambik. Dort wurde ich von einem Mann auf der Straße angesprochen, der mich spontan fragte: „Wie geht’s?“ Es stellte sich heraus, dass er in der DDR gearbeitet und gelernt hatte. Ich war dem Thema der Arbeitsmigration zwischen Afrika und der DDR bislang noch nicht begegnet, fand das ungeheuer spannend. Also ging ich los und traf mehr Menschen, die ebenfalls in der DDR gewesen waren. Das ist in der mosambikanischen Hauptstadt Maputo kein Problem, denn die Madgermans, wie die ehemaligen Vertragsarbeiter in ihrer Heimat genannt werden, treffen sich bis heute in einem Park der Stadt. Aus den Gesprächen wurden Interviews und irgendwann habe ich überlegt, daraus ein Forschungsprojekt zu machen. Am Ende habe ich mein Dissertationsprojekt über den Haufen geworfen und die Geschichte der Arbeitsmigranten zum Thema gemacht … Aus der Diss ist dann ein Buch zur Arbeitsmigration hervorgegangen, das Ende 2022 erschienen ist.
Wie untersucht man diese Berührungspunkte von Welt- und Individualgeschichte?
Ich habe einen lebensgeschichtlichen Ansatz gewählt und erzähle in dem Buch so etwas wie eine kollektive Lebensgeschichte der Vertragsarbeiter und Arbeiterinnen. Die einzelnen Analysen und Kapitel orientieren sich an dualen Schlüssellebenserfahrungen wie dem Produzieren und Konsumieren von Produkten oder auch dem Leben zwischen Inklusion und Exklusion im Privaten. Es ist der Versuch die Waage zu halten zwischen Einblicken in individuelle Lebensgeschichten – mit teils sehr persönlichen Zitaten und Eindrücken – und dem im Hintergrund stets präsenten Weltgeschehen.
Dabei hatte ich stets drei Geschichten im Hinterkopf: die der afrikanischen Staaten – konkret Angola und Mosambik, der DDR und die Weltgeschichte. So erklärt sich die Frage, warum ausgerechnet diese drei Länder im Austausch standen, vor dem Hintergrund des Kalten Krieges: Angola und Mosambik schlugen, nachdem sie sich von ihren Kolonialmächten unabhängig gemacht hatten, traditionell kommunistische Pfade ein und waren an einem Austausch mit der zweiten Welt interessiert. Dadurch wurde die DDR zu einem wichtigen Vertragspartner.
Diese staatliche Ebene wurde, vor allem mit Fokus auf die DDR, schon recht gut erforscht, auch mit Blick auf die Arbeitsmigration. Aber die Perspektive der Arbeiterinnen und Arbeiter fehlt bislang. Wie erinnern sie die Zeit in der DDR? Wie wurden sie dadurch geprägt? Wie erging es ihnen nach der Rückkehr? Diese Forschungslücke wollte ich schließen – und dabei die Makroebene der Nationalstaaten und die Mikroebene der Arbeiterinnen und Arbeiter verknüpfen. Mit einem Fokus auf die individuellen Perspektiven.
Also begann ich, mich mit Oral History zu befassen, aus meiner Sicht die naheliegende Methodik für das Vorhaben. Anschließend habe ich insgesamt 260 Interviews mit ehemaligen Vertragsarbeiterinnen und -arbeitern geführt und transkribiert. Auf diese Weise ist ein neuer, thematisch spezifischer Quellenfundus entstanden. Ergänzt wird er durch weitere Quellen aus unterschiedlichsten Archiven: Dokumente, Briefe, Fotoalben, aber auch Objekte, von Geschirr bis zu Mobiliar, das einige mit in die Heimat gebracht haben. So habe ich auch Reden aus dem mosambikanischen Radioarchiv oder Dokumente aus dem DDR-Staatsarchiv einbezogen, oder auch aus Betriebsarchiven, wie etwa Brigadetagebücher. Die verschiedenen Quellen nebeneinander zu befragen, dient dazu, die Erkenntnisse zu triangularisieren, Erkenntnisse also nicht aus einer Quellenart abzuleiten, sondern mithilfe verschiedener zu verifizieren.
Das ist besonders wichtig, weil Oral History stets die Zeitgebundenheit der Aussagen mitdenken muss: Befragungen bringen 2015 andere Aussagen als 1980. Erinnerung ist flexibel und wandelt sich. Es gilt also, den Lebensweg der Personen mitzudenken und zu reflektieren …
Was kam dabei heraus?
Ich war recht erstaunt. Ich hatte ein weit negativeres Narrativ erwartet, Erinnerungen von Ausbeutung und Enttäuschung. Die gab es zwar auch, v.a. für den Prozess der Rückzahlung von Löhnen, die von den Regierungen der afrikanischen Staaten oft in großem Stil einbehalten worden waren. Aber wenn man tiefer reingeht in die Erinnerungen – arbeiten, Familie gründen, reisen, Hobbies haben – dann sind die Erfahrungen oft sehr positiv. Das hat mich auch insofern erstaunt, weil man nach einem alleinigen Blick auf die DDR-Quellen meinen könnte, dass ihre Lebensumstände gar nicht so gut waren: Die Arbeiterinnen und Arbeiter haben meist sehr beengt gelebt, Wohnung und Arbeitsstätte wurden ihnen zugewiesen, sie durften nicht frei reisen, Beziehungen waren streng untersagt oder reglementiert. Aber das spiegelt sich in der Erinnerung nicht primär wider. Die konstruiert vielmehr häufig eine spannende Erfahrung. Außerdem bot für viele Menschen selbst das aus unserer heutigen Sicht recht einfache Leben in der DDR eine spürbare Verbesserung gegenüber dem, was sie aus ihrer Heimat kannten. Das zeigt vor allem eines: Was in der Analyse und Bewertung von Geschichte oft fehlt, ist das Urteil derjenigen, die sie erlebt haben. Es dominiert das Urteil derjenigen, die sie schreiben. Nicht zuletzt zeigen die individuellen Lebensgeschichten: Die Arbeiterinnen und Arbeiter sind für das, was ihnen wichtig war, eingetreten. Sie haben Regeln so ausgelegt, dass sie trotzdem reisen oder begehrte Güter erlangen konnten. Es wurden Beziehungen geknüpft, Familien gegründet. Sie waren dem Staat nicht so ausgeliefert, wie es den Anschein haben könnte, und haben viel kreative Lebensenergie entwickelt. Das zeigen ihre Erinnerungen.
In der Widmung nennen Sie das Buch eine „transnational history“, die zwischen afrikanischer und europäischer Geschichte sowie der des Kalten Krieges changiert. Wie „erzählt“ man diese Geschichte?
Migration ist ein dankbares Thema, weil es ganz automatisch mehrere geografische Standpunkte verbindet. Das wird nur oft nicht so erzählt, sondern lediglich von einer Perspektive aus, also dem Empfänger- oder Sendeland. Doch das wird schief, eine Geschichte von Menschen, die aus dem Nichts kommen, dort leben und dann wieder ins Nichts gehen. Das Ergebnis ist eine sehr nationalstaatliche Geschichte –etwa von dem, was in der DDR geschah –, ein künstlicher Container, der nur einen kleinen Ausschnitt zeigt. Wenn man die Gesamtheit dieses komplexen Geflechts zeigen will, muss man die verschiedenen Perspektiven einbringen, transnationale Ebenen einfügen. Man muss Geschichten von Herkunft, Migration und Rückkehr erzählen. Und, im Idealfall, mit der höheren, transnationalen Ebene, dem Hintergrund des Kalten Krieges, zusammenführen – und etwa zeigen, was den Austausch zwischen den Ländern möglich gemacht hat. Arbeitsmigration findet in sehr vielen Formen und zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen statt. Aktuell wird sie auch intensiv erforscht, aber gerade für kommunistische Systeme gibt es noch große weiße Flecken.
Also geht es für Sie mit diesem Thema weiter?
Ich glaube schon. Ich habe das spannende Verhältnis Angola, Mosambik, DDR mit dem Buch nicht zu den Akten gelegt. So gibt es auf der Ebene des Studierenden- und Expertenaustauschs noch viele Aspekte zu erforschen. Das wird mich noch länger begleiten. Und zum Glück haben wir in Berlin einen sehr guten Zugang zu Archiven der DDR.
Weitere Informationen:
Zu Marcia Schenck: https://www.uni-potsdam.de/de/hi-globalgeschichte/prof-dr-marcia-c-schenck/zur-person
Zum Buch „Remembering African Labor Migration to the Second World Socialist Mobilities between Angola, Mozambique, and East Germany“: https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-031-06776-1