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„Krisen werden sich in schnellerer Abfolge abspielen und sich auch überlappen“ – Prof. Sabine Kuhlmann untersuchte mit ihrem Team das Krisenmanagement der deutschen Verwaltung

Prof. Dr. Sabine Kuhlmann
Photo : Tobias Hopfgarten
Prof. Dr. Sabine Kuhlmann

Als sich Anfang 2020 das neuartige Coronavirus weltweit ausbreitete, stellte das nicht nur die Gesundheitssysteme, sondern auch die Behörden und Regierungen vor große Herausforderungen. Die Politik- und Verwaltungsforscherin Prof. Dr. Sabine Kuhlmann untersuchte von Beginn an, wie die deutsche Verwaltung auf die Krise reagierte, wertete mit ihrem Team umfassende Dokumente und Medienbeiträge aus und führte Interviews mit Verantwortlichen sowie Expertinnen und Experten.

Frau Kuhlmann, Sie haben jüngst zu einer großen internationalen Studie, die das Krisenmanagement verschiedener Länder auswertet, einen Bericht über den Umgang der deutschen Verwaltung mit der Corona-Pandemie beigesteuert. Wenn Sie eine Note für Deutschland vergeben könnten – welche wäre das?

Es ist schwierig, da eine eindeutige Note zu vergeben. Beim Management von Corona waren sehr viele Organisationsbereiche betroffen und die Verwaltung hat unterschiedliche Rollen ausgefüllt. Wir haben den Bund, die Länder, die Kommunen, die Gesundheitsverwaltung, die Schulverwaltungen und so weiter … Einiges ist sicherlich schlecht gelaufen. Aber Deutschland hat in Fragen der Krisen-Governance und des Pandemiemanagements – wenn wir das im internationalen Vergleich betrachten – doch vergleichsweise gut abgeschnitten.

Was ist gut gelaufen?

Ich komme gerade aus Israel zurück, wo ich dazu einen Vortrag gehalten habe. Das Interesse an diesen Fragen ist groß. Ein enormer Vorteil der deutschen Verwaltung ist beispielsweise, dass wir stark aufgestellte Kommunen und Lokalverwaltungen haben. Außerdem gut trainierte Gesundheitsämter, auch wenn wir alle wissen, dass diese zeitweise enorm überfordert waren und in Sachen Digitalisierung nicht so gut funktioniert haben. Das hat auch mit ihrem Schattendasein zu tun, das sie bis dahin fristeten. Das deutsche System hat aber grundsätzlich den Vorteil, dass die lokale Ebene sehr schnell reagieren kann und über vergleichsweise starke Kapazitäten verfügt. Im Gegensatz zu Ländern, die sehr zentralistisch organisiert sind, wie etwa Frankreich, Großbritannien oder Israel. Bei uns sind Gesundheitsämter mit recht umfangreichen Kompetenzen ausgestattet und können etwa Schulschließungen anordnen.

Aber wird nicht gerade dieser dezentrale Ansatz kritisiert, etwa, weil es zu Kompetenzgerangel oder zu sehr unterschiedlichen Regeln kommt?

Ich würde dagegenhalten. Es ist richtig, dass man fürs Krisenmanagement eine Instanz auf föderaler Ebene braucht, bei der alle Fäden zusammenlaufen. Ein großer Kritikpunkt bestand ja darin, dass im Grunde keinerlei Bündelung auf der Bundesebene existierte. Die Bund-Länder-Konferenzen waren sicherlich kein geeignetes Mittel. Dennoch hat die dezentrale Organisation Vorzüge, was Schnelligkeit und Agilität vor Ort angeht. Auf regionale Unterschiede können wir besser reagieren. Das sollten wir als Stärke sehen. Ein starkes lokales Gesundheitsamt, das entscheiden kann und das Ressourcen hat, ist keine Selbstverständlichkeit. In anderen Ländern werden wir dafür – so würde ich es fast schon sagen – beneidet. Die skandinavischen Länder sind hier ähnlich stark aufgestellt.

Was ist in der Pandemie weniger gut gelaufen?

Da müssen wir über die Rolle von Daten und Wissen und damit der wissenschaftlichen Politikberatung in der Corona-Krise sprechen. Es gibt in Deutschland eine Reihe von wirklich guten, etablierten Monitoringsystemen, bei denen Daten im Gesundheitssektor – etwa zu Infektionskrankheiten – generiert werden. Wir haben Pandemiepläne, Präventionsinstrumentarien, Risikoanalysen und so weiter. Allerdings wurde all das in der Pandemie kaum genutzt. Zum Teil waren Pandemiepläne auch veraltet oder auf kommunaler Ebene nicht vorhanden.

Warum sind diese Instrumente nicht zum Einsatz gekommen?

Teilweise hat sich niemand dafür interessiert. Das heißt, auch Politiker und Entscheidungsträger sind mit den vorhandenen Instrumentarien überhaupt nicht vertraut. Wie Krisenmanagement auf der Bundesebene funktioniert und was es da schon an etablierten Krisenstäben gibt, ist den Entscheidungsträgern nicht bekannt. Viele wissen auch nicht, was auf Bundesebene bereits an Politikberatungsinstitutionen vorhanden ist. In unseren Interviews mit Akteuren aus der regierungsinternen Politikberatung wurde kritisiert: „Die Entscheider wissen gar nicht, dass es uns gibt.“ Stattdessen wurden neue Runden etabliert, neue Beratungsinstanzen gegründet, wenig koordiniert und stark fragmentiert. Ein weiterer Kritikpunkt ist auch, dass Daten, mit denen man das Krisengeschehen hätte steuern können, fehlten oder diese lückenhaft waren. Sie wurden aber auch nicht zeitnah erhoben.

Welche Daten wären das?

Etwa solche, die jenseits von epidemiologischen und virologischen Daten zu einer ganzheitlichen Pandemiebeurteilung führen. Auch Psychologie, Soziologie, Bildungsforschung und viele weitere Professionen müssen da einbezogen werden. Das hat man später zwar nachgeholt, aber das Defizit bleibt bestehen. Wir haben auch keine repräsentativen Bevölkerungsstudien durchgeführt, wie es etwa in Israel oder Großbritannien geschehen ist. Dort sind bei der Beurteilung der Pandemie sozioökonomische Kriterien stärker berücksichtigt worden. Auch regionalspezifisch aufgeschlüsselte Daten, die für Entscheidungsträger vor Ort sehr wichtig sind, waren nicht ausreichend vorhanden.

Ist es nicht verständlich, dass man sich anfangs vor allem darauf konzentriert hat, die epidemiologischen Fragen zu klären und damit Gefahren abzuwenden?

Das ist bis zu einem gewissen Grad verständlich, aber nach einem halben Jahr nicht mehr nachzuvollziehen. Es gab durchaus auch unterschiedliche Ansätze. In Nordrhein-Westfalen wurden in den „Expertenrat Corona“ von Beginn an verschiedene Disziplinen einbezogen: Ökonomie, Verfassungsrecht, Ethik. Auf der Bundesebene passierte das nicht. Mit dem Regierungswechsel verfügen wir nun zumindest über das sogenannte „ExpertInnengremium“ im Kanzleramt. Die Politikberatung war davor aber sehr eingeengt auf epidemiologische und virologische Expertise und folgte vor allem einem biomedizinischen Verständnis.

Was sind die Lehren aus dem Geschehen der vergangenen zwei Jahre?

Das Thema Krisenmanagement wird uns weiter beschäftigen und stärker in den Fokus rücken. Es wurde lange vernachlässigt, gerade im Bereich der Verwaltungs- und Politikwissenschaft. Die Krisen werden sich nicht nur in schnellerer Abfolge abspielen, sondern auch überlappen. Das sehen wir jetzt schon sehr anschaulich: Die Corona-Krise ist noch nicht vorbei, die Ukraine-Krise ist da und der Klimawandel eine Dauerkrise. Wie Verwaltungen damit umgehen, ist eine ganz zentrale Frage. Wir als Forschende schreiben Gutachten und geben Empfehlungen. Während der Krise nimmt man das dann zur Kenntnis, aber nach deren Abflauen kommt es in die Schublade, weil man sich anderen, politisch attraktiveren Themen zuwendet. Wer möchte schon dauerhaft Krisenpolitik machen? Dennoch müssen sich die Regierungsorganisationen stärker und langfristig damit beschäftigen. Wir brauchen mehr Personal, mehr Datenkompetenz und interdisziplinäre Zusammenarbeit in den Behörden. Ganz zentral ist auch der Umgang mit Daten. Wie kann man verstreute Daten, die reichlich vorhanden sind, gut aufbereiten und bündeln? Derzeit betreibt jedes Ressort, jedes Ministerium und jede Behörde so eine Art Datenhortung. Sie sammeln Informationen und geben sie nicht heraus. Das hat natürlich auch etwas mit Datenschutz zu tun. Es muss aber möglich sein, die vorhandenen Datenbanken untereinander zu teilen und sich auszutauschen, um gute Entscheidungen treffen zu können.

Beobachten Sie bereits Veränderungen auf der Politik- und Verwaltungsebene?

Mit dem Regierungswechsel erfolgte eine gewisse Bündelung von Krisenmanagementkompetenz auf der Bundesebene. Es gibt einen Krisenstab im Kanzleramt und das erwähnte neue ExpertInnengremium. Das Thema Verwaltungsmodernisierung und damit Krisenfestigkeit von Verwaltungen scheint auch verstärkte Aufmerksamkeit zu bekommen. Da ist was im Gange. Digitalisierung ist nach wie vor eine Dauerbaustelle. Deshalb wird es einen Digitalcheck von Gesetzen geben, der sicherstellen soll, dass jedes neu erlassene Gesetz auch digital vollzogen werden kann. Das ist schon ein großer Schritt voran. Ich bin gespannt, ob man aus dieser Krisenerfahrung nun wirklich etwas gelernt hat. Nach der Flüchtlingskrise war das leider nicht ausreichend der Fall. Das werden wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf jeden Fall weiter im Blick haben.

Das Projekt

Im Forschungsprojekt „Regierungs- und Verwaltungshandeln in der COVID-19-Krise“ untersuchen Prof. Dr. Sabine Kuhlmann, apl. Prof. Dr. Jochen Franzke, Benoît Dumas und Moritz Heuberger von der Uni Potsdam, wie das Krisenmanagement der COVID- 19-Pandemie im deutschen föderalen Mehrebenensystem organisiert war. Dabei schauen sie darauf, welche Rolle die Einbindung von Wissen und Expertise spielte und inwiefern Pandemie- und Krisenpläne sowie Übungen in der Pandemie geholfen haben. Im Ergebnis sollen Handlungsempfehlungen und Optimierungspotenziale aufgezeigt sowie Lehren für eine bessere „Krisen-Preparedness“ abgeleitet werden. Das Projekt wird von der britischen Stiftung Wellcome Trust gefördert und in Kooperation mit einem Team der Blavatnik School of Government an der Universität Oxford durchgeführt.

https://www.uni-potsdam.de/de/ls-kuhlmann/forschung/regierungs-und-verwaltungshandeln-in-der-covid-19-krise

Die Forscherin

Prof. Dr. Sabine Kuhlmann studierte Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2013 forscht sie an der Universität Potsdam als Professorin für Politikwissenschaft, Verwaltung und Organisation. Sie ist stellvertretende Vorsitzende im Nationalen Normenkontrollrat. Das Gremium berät die Bundesregierung zum Bürokratieabbau und zur besseren Rechtsetzung.
E-Mail: sabine.kuhlmanuni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2022 „Mensch“ (PDF).