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Transparenz hilft! – Wie das Harding-Zentrum Menschen befähigt, gesundheitliche Risiken zu verstehen

Eine Illustration eines Eisbergs im Wasser. die obere kleine Spitze guckt an der Oberfläche heraus, ein Bootfahrer sieht mit einem Fernglas darauf. Der größere untere Teil befindet sich unter der Wasseroberfläche, auf ihm steht das Wort "Risk".
Photo : AdobeStock/jozefmicic
Das Harding Center versucht, Risiken verständlich und damit auch kalkulierbarer zu machen.

Anfang 2020 drängte Corona in die Welt. Im Januar noch als Randnotiz in den Nachrichten aus China, Anfang März mit ersten Infektionszahlen und Fällen in deutschen Krankenhäusern, wenig später war es überall. Was folgte, war ein Wettlauf – zunächst „nur“ um einen Impfstoff und Medikamente, um die Krankheit Covid-19 behandeln zu können. Doch je länger die Pandemie dauerte und je größer die Unsicherheit wurde, welche Gefahren und Risiken sie mit sich bringt, desto klarer war auch, dass die Menschen noch etwas anderes brauchten: Wissen. Transparente, verständliche Informationen über das Virus, die Krankheit und ihre Folgen, die umso schwerer zu bekommen waren, je mehr Erkenntnisse die Wissenschaft zutage förderte. Aber auch über Nutzen und Risiken einer Impfung gegen das Coronavirus wurde bald mehr diskutiert als informiert. Die Folge: Unsicherheit. Menschen, die eine Impfung nicht grundsätzlich ablehnten, zögerten. Lieber warten, bis mehr Klarheit herrscht. Die versucht das Harding-Zentrum für Risikokompetenz zu schaffen: mit Faktenboxen, die über Risiken informieren, damit Menschen aufgeklärt entscheiden können. Zum Beispiel, ob sie sich gegen Corona impfen lassen oder nicht.

„Wir wünschen uns eine Gesellschaft, die Risiken einzuschätzen und mit ihnen zu leben weiß“, sagt der Psychologe Gerd Gigerenzer, der das HardingZentrum gegründet hat. „Mit unserer Arbeit können wir dazu einen Beitrag leisten.“ Denn diese Risikokompetenz fällt nicht vom Himmel. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Zentrums „untersuchen, wie sich Menschen in Risikosituationen verhalten“, so Gigerenzer. Vor allem interessiert die Forschenden, was Menschen über Risiken wissen müssen, um sie so ernst zu nehmen, wie sie es verdienen – aber auch nicht mehr. Es geht also vor allem um die Frage, wie man Unsicherheiten, mögliche negative Folgen und Unwägbarkeiten so kommunizieren kann, damit sie zu kennen auch hilft. Dafür führt das Zentrum in der Bevölkerung Studien und Umfragen zu verschiedensten Themen durch. Vornehmlich dreht es sich dabei um Gesundheit: Ist eine Grippeschutzimpfung sinnvoll? Hilft Homöopathie wirklich? Was bringen Krebsvorsorgeuntersuchungen eigentlich? Neben der wissenschaftlichen Publikation seiner Forschungsergebnisse entwickelt das Zentrum verschiedene Methoden und Instrumente der Risikokommunikation – unter anderem für Akteure aus dem Gesundheitswesen oder andere Multiplikatoren, die die Erkenntnisse tagtäglich weitergeben können, aber auch für die breite Öffentlichkeit.

Eine Box voller Fakten

Eines der wichtigsten Tools, mit dem das HardingZentrum seinen Werkzeugkasten bestückt, sind sogenannte Faktenboxen. Diese führen alle wesentlichen Informationen zu einer medizinischen Maßnahme zusammen, möglichst übersichtlich aufbereitet: in verständlicher Sprache, ergänzt mit einer Tabelle oder Grafik, die die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Nutzen und Schaden in Zahlen zusammenfasst. „Unsere Aufgabe ist es, Risiken transparent zu machen“, sagt Christin Ellermann, die am HardingZentrum arbeitet. „Damit Menschen selbst abwägen können, an einer Maßnahme teilzunehmen oder nicht.“ Faktenboxen sollen ihnen genau das ermöglichen: klar machen, was oft unklar geworden ist – durch zu viele Informationen, Fake News, fachsprachliches Dickicht, eine Flut von Zahlen und Daten, mitunter ohne Quellen oder sinnvolle Einordnung. Auf der Webseite des HardingZentrums finden sich zahlreiche Faktenboxen, etwa zu verschiedenen Krebsvorsorgeuntersuchungen, Mandeloperationen bei Kindern, aber auch zu Impfungen gegen Grippe, Masern, Mumps, Röteln (MMR) und das Coronavirus.

Für die Forschenden bedeutet das viel Arbeit: Sie müssen die für ein Thema relevanten aktuellen Studien identifizieren, das Wesentliche zum Krankheitsbild, der Intervention und zu positiven wie negativen Auswirkungen herausarbeiten und auf verständliche Weise darstellen. Konkret etwa: Was bringen Antibiotika bei Bronchitis? Und welche Nebenwirkungen muss ich in Kauf nehmen? Genauso wichtig: Auf die richtigen Fragen braucht es klare Antworten. „Wo möglich, sollten absolute Zahlen und nicht relative Risiken kommuniziert werden“, so Christin Ellermann. „Die wenigsten können sich etwas darunter vorstellen, wenn von einem 20 Prozent geringeren Risiko die Rede ist.“ Beispielsweise leiden bei Bronchitis 51 von je 100 Menschen zwei bis 14 Tage nach der Behandlung an Husten, wenn sie keine Antibiotika bekommen. Mit Antibiotika sind es 32 von je 100. Dafür zeigen sich bei 23 von je 100 Menschen mit Antibiotika Nebenwirkungen, ohne nur bei 19 von je 100. Krank fühlten sich beide Gruppen übrigens rund fünf Tage. Zum Abschluss finden die Suchenden das Wichtigste „kurz zusammengefasst“ – in einfachen, verständlichen Worten. Allen, die wissen wollen, wo die Fakten herkommen, oder die sich noch umfassender informieren wollen, bietet das HardingZentrum Begleittexte. Diese enthalten Quellen, Hintergründe zur Beweislage und auch Erläuterungen, wie die Faktenboxen „zu lesen“ sind. Transparenz steckt in der Kürze und im Detail.

Viele der Faktenboxen entstehen in Zusammenarbeit mit Institutionen des Gesundheitsbereichs, etwa Ministerien oder Krankenkassen. So auch die Faktenbox zur Corona-Impfung. Im Herbst 2020, als die Zulassung der ersten Impfstoffe absehbar wurde, begann die Arbeit an der „Faktenbox zur mRNASchutzimpfung gegen COVID-19“ gemeinsam mit dem Robert Koch-Institut (RKI). Sie sollte die drängendsten Fragen klären: Welche Nebenwirkungen hat die Corona-Impfung? Was ist eigentlich ein mRNAImpfstoff und wie funktioniert er? Was könnte passieren, wenn ich mich nicht impfen lasse? Wie viele von denen, die sich mit dem Virus infizieren, müssen im Krankenhaus behandelt werden? Und was ist mit Langzeitfolgen der Infektion, die als „Long Covid“ bezeichnet werden? Im Januar 2021, kurz nach dem Impfstart, konnte das Harding-Zentrum die Faktenbox auf seiner Webseite veröffentlichen. Binnen kürzester Zeit wurde sie in elf Sprachen übersetzt, um möglichst vielen Menschen den aktuellen Wissensstand zur Corona-Impfung zur Verfügung zu stellen.

Nachfragen, was ankommt

Und sie tut es, wie Studien ergeben haben, die das Harding-Zentrum gemeinsam mit dem Umfrageinstitut infratest dimap durchgeführt hat. Zahlreiche Menschen, denen die Faktenbox vorgelegt wurde, konnten das Nutzen-Schaden-Verhältnis der COVID-19-Impfung besser einschätzen als jene, die eine herkömmliche Impfaufklärung erhielten. Gleichzeitig stieg auch die Impfabsicht. Doch ausruhen wollten sich die Forschenden darauf nicht. Da die erste Faktenbox in sehr kurzer Zeit entstanden war, galt es, sie weiter zu verbessern. Ein Job für Christin Ellermann. Dafür suchte sie Interviewpartner aus allen gesellschaftlichen Schichten. Denn es gibt Unterschiede im Informationsstand. Sozial benachteiligte Menschen haben – zum Beispiel aufgrund niedriger Bildung oder weniger guter Deutsch-Sprachkenntnisse – größere Probleme, gesundheitsrelevante Informationen zu finden, zu verstehen, kritisch zu beurteilen und anzuwenden. Sie wurden auch durch die Aufklärungskampagnen nicht gut erreicht – ihre Informationsbedürfnisse nicht adressiert. „Sie wohnen oft mit mehreren Personen in kleineren Wohnungen, wo man sich leichter ansteckt oder können nicht im Homeoffice arbeiten.“ Gerade diese Menschen wolle man mit den Faktenboxen erreichen, erklärt sie. Insgesamt hat Christin Ellermann 13 Interviews geführt. Alle, Corona sei „Dank“, am Telefon. Sie hat mit Menschen die Faktenbox durchgesprochen und dazu befragt: Was verstehen sie? Wie finden sie die Formulierungen? Haben Sie die Zahlen so erwartet? Was fehlt oder ist ihrer Meinung nach nicht richtig dargestellt? Was könnte man ändern? Anschließend wurde die Faktenbox verbessert: mal nur sprachliche Feinheiten, mal inhaltliche Ergänzungen. Außerdem konnten manche mit dem Begriff „mRNA“ nichts anfangen, kannten aber die Namen der Impfstoffe – dank intensiver Berichterstattung – und suchten sie in der Faktenbox. Also kamen sie hinzu.

Doch Christin Ellermann war nicht zufrieden: „Unter meinen Interviewpartnern waren hauptsächlich höher Gebildete mit guten Deutsch-Kenntnissen. Also haben wir beschlossen, dorthin zu gehen, wo die Menschen leben, an die wir bisher nicht herangekommen sind.“ Deshalb kooperiert das Projektteam nun mit dem Gesundheitsamt Neukölln. Dort weiß man schon länger, dass es Gruppen gibt, die über die Aufklärungskampagne nicht erreicht wurden oder auf Fake News hereinfallen. Die Verantwortlichen haben ein interkulturelles Aufklärungsteam aufgebaut, das die Menschen in ihrem gewohnten Umfeld, z.B. Cafés, aufsucht und in verschiedenen Sprachen auf Augenhöhe informiert. Mit diesem Team wollen die Forscherin und ihre Kollegen vom Harding-Zentrum nun weitere Interviews führen und untersuchen, wie Faktenboxen zur Schutzimpfung gegen COVID-19 verständlich dargestellt werden können – zunächst in russischer, arabischer und türkischer Sprache. Noch im Sommer sollen insgesamt 18 Interviews geführt werden, je sechs pro Sprache. „Wir hoffen, bis zum Herbst – und zum Beginn einer weiteren Welle, von der wir leider ausgehen müssen – damit fertig zu sein“, sagt die Wissenschaftlerin zuversichtlich. Denn dann sollen die Informationen in der Impfaufklärung in Arztpraxen und der aufsuchenden Arbeit eingesetzt und in einer größeren Stichprobe evaluiert werden.

Bis dahin müssen aber nicht nur die sprachliche und die visuelle Gestaltung der Faktenbox überarbeitet sein. Auch inhaltlich muss sie immer wieder angepasst werden. Das ist freilich nicht nur der rasanten wissenschaftlichen Forschung und Impfstoffentwicklung geschuldet. Auch das Coronavirus selbst wandelt sich seit seinem ersten Auftreten immer wieder binnen kürzester Zeit. Fest steht: In der überarbeiteten Faktenbox wird wieder viel Arbeit stecken. Und Christin Ellermann wird gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen vom Harding-Zentrum dafür sorgen, dass man es nicht sieht.

Die Forscherin

Christin Ellermann studierte Public Health in Bremen und Berlin. Seit 2016 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Harding-Zentrum für Risikokompetenz.
E-Mail: christin.ellermannuni-potsdamde

Das Harding-Zentrum für Risikokompetenz

Das Harding-Zentrum für Risikokompetenz wurde 2009 von Prof. Dr. Gerd Gigerenzer am Max-Planck- Institut für Bildungsforschung (MPIB) gegründet. Der Psychologe und ehemalige Direktor des Instituts beschäftigt sich mit der Frage, wie man rationale Entscheidungen treffen kann, wenn Zeit und Information begrenzt sind und die Zukunft ungewiss ist. Namensgeber des Zentrums ist David Harding, Global Investment Manager und Chef von Winton Capital, der die Arbeit Gigerenzers schätzt und als Mäzen finanziell unterstützt. Nach der Emeritierung Gerd Gigerenzer wechselte das Harding-Zentrum 2020 vom MPIB an die Fakultät für Gesundheitswissenschaften, die die Universität Potsdam gemeinsam mit der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg und der Medizinischen Hochschule Brandenburg betreibt.

https://www.hardingcenter.de


Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2022 „Mensch“ (PDF).