„Wir beschäftigen uns mit relativistischer Astrophysik“, sagt Tim Dietrich, „schauen uns also Objekte im Universum an, die mit Einsteins Relativitätstheorie beschrieben werden müssen, insbesondere kompakte Objekte wie Neutronensterne und Schwarze Löcher.“ Neutronensterne und Schwarze Löcher können aus bestimmten massereichen Sternen am Ende ihres Lebenszyklus gebildet werden, wenn keine Kernfusion mehr stattfindet. Wie extrem deren Materiezustände sind, kann man sich folgendermaßen veranschaulichen: Würde man aus der Erde ein Schwarzes Loch machen, müsste man sie auf etwa einen Zentimeter Durchmesser komprimieren. Ein einziger Teelöffel voller Neutronensternmaterial besäße eine Masse von bis zu einer Milliarde Tonnen.
Umkreisen sich zwei dieser Superschwergewichte, werden Gravitationswellen ausgesendet. Sie breiten sich mit Lichtgeschwindigkeit aus, stauchen und dehnen die Raumzeit und ändern somit ansonsten konstante Abstände. Da diese Änderungen jedoch winzig klein sind, benötigt man ausgeklügelte Laserexperimente, um sie zu messen. Dies gelang erstmals 2015, obwohl Gravitationswellen bereits 1916 durch Albert Einstein postuliert worden waren. Aber damals war sich Einstein seiner Sache nicht sicher. In einer Vorlesung über Gravitationswellen in Princeton schloss er mit den Worten: „Wenn sie mich fragen, ob es Gravitationswellen gibt oder nicht, so muss ich antworten: Ich weiß es nicht. Aber es ist ein hoch interessantes Problem.“
Wellen aus dem Hochleistungsrechner
Zum Aufspüren der Gravitationswellen nutzen die Forschenden LaserInterferometer. In diesen Messgeräten laufen Laserstrahlen durch kilometerlange Tunnel und werden von Spiegeln reflektiert und zu ihrem Ausgangspunkt zurückgeschickt, wobei die Lichtintensität gemessen wird. Zieht eine Gravitationswelle vorbei, ändert sich der Abstand zwischen den Spiegeln um einen winzigen Betrag und damit auch die Intensität des Lichtstrahls. Das gemessene Signal enthält Informationen über die Quelle, z.B. zur Entstehung eines Schwarzen Lochs. „In gemeinsamen Messkampagnen empfangen verschiedene Gravitationswellendetektoren weltweit Signale aus dem All“, sagt Tim Dietrich. Die wissenschaftlichen Teams der Detektoren LIGO in den USA, Virgo in Italien und KAGRA in Japan haben sich 2019 zu einem internationalen Netzwerk zusammengeschlossen. Im November 2021 veröffentlichten sie den Gravitationswellenkatalog der vergangenen Messreihe, die im März 2020 endete. „Dieser enthält spannende Daten verschmelzender Schwarzer Löcher und Neutronensterne“, berichtet Dietrich. Nach einer Wartungspause ist die nächste Messreihe ab Dezember 2022 geplant.
Seit einigen Jahren ist der direkte Vergleich von Beobachtungen und Computersimulationen möglich. „Um die Bewegung und Kollision von Neutronensternen zu beschreiben, muss man die Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie lösen“, erklärt Tim Dietrich. „Auf Hochleistungsrechnern entwickeln wir dazu einfache Wellenformmodelle, die es erlauben, schnell und effizient Gravitationswellensignale kollidierender Neutronensterne zu berechnen. Mit diesen Modellen können dann die gesammelten Daten der Detektoren analysiert werden, um den Kollisionsprozess besser zu verstehen.“
Im Jahr 2020 sind bei den Berechnungen in seiner Arbeitsgruppe circa 130 Millionen CPU-Stunden zusammengekommen, die größte dabei erzeugte Datei war 1 PetaByte groß – eine sechzehnstellige Zahl! Die dafür notwendige Rechenleistung ist nur auf Computerclustern, also vielen miteinander vernetzten Hochleistungsrechnern verfügbar. „Wir nutzen unter anderem den SuperMUC-NG am Leibniz-Rechenzentrum in Garching bei München und den Großrechner Hawk im Höchstleistungsrechenzentrum HLRS in Stuttgart“, so Tim Dietrich.
Was kollidierende Neutronensterne und Goldteilchen gemeinsam haben
In den kommenden Jahren steht der Gravitationswellenastronomie eine enorme Verbesserung bevor. Mit dem Einstein-Teleskop – einem Designkonzept für einen europäischen Gravitationswellendetektor – soll die nächste Instrumentengeneration an den Start gehen, rund zehnmal empfindlicher als die vorangegangene. Dietrich ist an ihrer Entwicklung beteiligt und leitet zusammen mit zwei Kolleginnen die Abteilung Kernphysik des Observational Science Boards. In deren Fokus steht die Frage, wie Gravitationswellenmessungen genutzt werden können, um wichtige Informationen zum Aufbau ultradichter Materie zu erhalten. Dass die Kernphysik stark mit der Astronomie verbunden ist, hat Dietrich erst kürzlich mit einem internationalen Forschungsteam gezeigt. „Uns ist aufgefallen, dass die Kollision zweier Goldteilchen in einem Teilchenbeschleuniger der zweier Neutronensterne ähnelt“, beschreibt er. „Bei beiden Prozessen lässt sich aus Datensätzen ermitteln, wie sich Druck und Dichte während des Zusammenstoßes entwickeln.“
2025 soll bekannt gegeben werden, wo das hochmoderne Observatorium gebaut wird. Sardinien, die Grenzregion von Belgien, Deutschland und den Niederlanden (Euregio Maas-Rhein) sowie die Lausitz sind als geeignete Standorte im Gespräch. Egal wo – mit dem Gerät entsteht für Tim Dietrich viel Zukunftspotenzial, um seine Forschung weiter voranzutreiben.
Der Forscher
Prof. Dr. Tim Dietrich studierte Physik an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg. Seit Februar 2020 ist er Juniorprofessor für Theoretische Astrophysik an der Universität Potsdam und leitet die Arbeitsgruppe „Multimessenger-Astrophysik kompakter Binärsysteme“ am Albert-Einstein-Institut in Potsdam.
E-Mail: tim.dietrichuuni-potsdampde
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2022 „Mensch“ (PDF).