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Beben berechnen – Der Mathematiker Prof. Gert Zöller entwickelt Wahrscheinlichkeitsmodelle für Erdbeben und andere Katastrophen

Prof. Gert Zöller
Mithilfe mathematischer Modelle lassen sich die Wahrscheinlichkeit von Erdbeben und anderen Katastrophen berechnen – und entsprechende notwendige Schutzmaßnahmen ableiten.
Photo : Tobias Hopfgarten
Prof. Gert Zöller
Photo : AdobeStock/Varunyu
Mithilfe mathematischer Modelle lassen sich die Wahrscheinlichkeit von Erdbeben und anderen Katastrophen berechnen – und entsprechende notwendige Schutzmaßnahmen ableiten.

Die Provinz Groningen in den Niederlanden gilt gemeinhin nicht als seismischer Hotspot. Dennoch ereignete sich hier 2012 ein Erdbeben der Stärke 3,6 auf der Richterskala. Die betroffene Gemeinde Huizinge war mehr als aufgeschreckt. Schäden an den Häusern waren nicht zu übersehen. Es folgten wachsendes Misstrauen und Empörung gegenüber den politischen Entscheidungsträgern, aber auch der Wissenschaft. Zu lange ignorierten sie die immer wieder auftretenden Erschütterungen, die mit der Förderung von Erdgas zusammenhängen.

Groningen liegt über einem der größten Gasfelder der Welt. Seit etwa 60 Jahren wird hier der begehrte Brennstoff abgebaut. In der vormals seismisch unauffälligen Region bebt nunmehr seit über 30 Jahren der Untergrund, oft kaum spürbar, aber immerhin bis zu 70 Mal im Jahr. Jede Erschütterung ließ die Risse in den Hauswänden größer werden, bis ganze Gebäude unbewohnbar wurden. Zwar gab es seit geraumer Zeit kontinuierliche seismische Messungen, doch es fehlte an wissenschaftlichen Erkenntnissen, mit denen sich die Gefahrenlage tatsächlich einschätzen ließ.

Modelle füttern

SECURE, ein BMBF-gefördertes Verbundprojekt, an dem auch das Deutsche GeoForschungsZentrum (GFZ) und die Universität Potsdam beteiligt waren, untersuchte in den zurückliegenden Jahren, wie sich unter den variierenden Druck- und Spannungsverhältnissen die Stabilität des Barrieregesteins verändert. Wurde es durch entstehende Risse geschwächt? Und welche Rolle spielen andere, natürliche Störungssysteme? Ziel war es, Vorhersage- und Charakterisierungswerkzeuge für die nachhaltige Nutzung von Gasspeichern, Kohlenwasserstoff-Lagerstätten und geothermischen Reservoiren zu entwickeln.

Gert Zöller von der Universität Potsdam brachte hier innovative Modellierungsverfahren ein. Der Professor für Angewandte Mathematik erstellte Seismizitätsmodelle, die ihren Ursprung in der Wahrscheinlichkeitstheorie haben. Im Projekt wurden sie zunächst mit den empirischen Daten registrierter Erdbeben „gefüttert“: Wann ereignete sich an welchem Ort eine solche Erschütterung? Und mit welcher Magnitude? Etwa 60 Jahre Gasförderung in Groningen hatten für einiges Material gesorgt, das in verschiedenen Datensätzen zu finden war. Auch die Produktionsmengen, also wie viel Gas in welchem Monat und welchem Jahr gefördert wurde, speiste Zöller in sein Modell ein. Hinzu kamen geophysikalische Messdaten, etwa von sich ändernden Druck- und Spannungsverhältnissen. Statistik, Geologie und Geophysik griffen hier ineinander, um genauere Aussagen über die Wahrscheinlichkeit seismischer Gefährdungen treffen zu können.

Mathematik anwenden

Auch nach Abschluss des Verbundprojekts arbeitet Gert Zöller weiter am Fall Groningen. Gerade erst hat er an einem Workshop in Amsterdam teilgenommen, bei dem es darum ging, bestehende Risiken besser abschätzen zu können. „Denn schließlich soll noch bis 2023 im Norden der Niederlande Erdgas gefördert werden. Aber auch danach wird es weiterhin zu Erdbeben kommen“, weiß der Mathematiker, der sich schon seit seiner Promotion mit geophysikalischen Problemen befasst. „Ich wollte immer etwas Angewandtes machen, möglichst in den Umweltwissenschaften. Das ist für mich auch ein Stück Idealismus.“ Mit der Universität Potsdam und dem GFZ fand er als Doktorand in Potsdam die perfekte wissenschaftliche Umgebung und Unmengen an Daten für seine Modellierungen vor. Sein Thema damals: ein Erdbeben, das sich 1988 im Kaukasus, im georgischen Spitak, ereignete. Bis heute arbeitet Gert Zöller eng mit den Kolleginnen und Kollegen des GFZ zusammen. „Wir interessieren uns vor allem für starke Erdbeben, da sie große Schäden anrichten“, sagt Zöller und erinnert an das Megabeben in Fukushima. „Für solche Ereignisse ist die Datenbasis gering, weil starke Beben eben selten auftreten.“ Die Forschenden müssen dann aus zusätzlichen Annahmen Kenngrößen entwickeln, die das fehlende Wissen berücksichtigen. Daraus entstehen sogenannte probabilistische Modelle, die eine Reihe von Zufallsvariablen enthalten, die zu verschiedenen Szenarien führen und mit Wahrscheinlichkeiten beschrieben werden. „Auch wenn das immer gewünscht wird, konkrete Ereignisse lassen sich damit nicht vorhersagen“, erklärt der Mathematiker. Vielmehr gehe es darum zu beschreiben, wann in welchem Gebiet ein Erdbeben mit welcher Stärke wahrscheinlich ist. Daraus wiederum können die Kommunen der gefährdeten Regionen entsprechende Maßnahmen ableiten: erdbebengerecht bauen, den Katastrophenschutz aufstocken, Bevölkerung umsiedeln oder auch Versicherungen anpassen.

Im Unterschied zu solchen Naturkatastrophen sind die Erschütterungen in Groningen vom Menschen gemacht. Hier durch die Erdgasförderung, andernorts durch die Nutzung von Erdwärme. „Unmittelbar nach einer Bohrung gab es 2006 in Basel ein Beben mit der Magnitude 3.4. Das Projekt wurde schließlich eingestellt“, berichtet Zöller und erzählt, dass in manchen Regionen der USA mittlerweile mehr Erdbeben durch Fracking und Geothermie ausgelöst würden als durch natürliche seismische Prozesse. „Wir müssen wissen, wie wir in der Zukunft damit umgehen können“, beschreibt er einen der wichtigsten Gründe für die Arbeit an den Modellen, ohne sein Unverständnis über die Umweltgefährdungen durch Fracking zu verbergen. Als hätte die Menschheit mit natürlichen Erdbeben, wie zuletzt im Juni 2022 in Afghanistan, nicht genug zu tun.

Dem Magma auf der Spur

Oder auch mit Vulkanausbrüchen. Derzeit steuert Gert Zöller seine mathematische Expertise zum DFG geförderten Projekt MagmaPropagator von Universität Potsdam und GFZ bei. Ziel der von Dr. Eleonora Rivalta geleiteten Forschungsarbeit ist die Entwicklung eines physikbasierten Werkzeugs, mit dem Szenarien für den Ort und die Zeit einer Risseröffnung nach der unterirdischen Ausbreitung von Magma vorhergesagt werden können. Denn nicht immer nimmt das Magma den zentralen Schlot eines Vulkans, sondern bewegt sich auf gewundenen Pfaden unter der Oberfläche, um schließlich durch einen neuen Spalt auszutreten. Solche eruptiven Risse finden sich in vielen dicht besiedelten Gebieten, wie etwa den Campi Flegrei bei Neapel. Aber auch am Ätna auf Sizilien und am Piton de la Fournaise in La Reunion gibt es häufige Fissurausbrüche. Da alle drei Regionen über Jahrzehnte genau beobachtet wurden, liegen umfangreiche Messdaten vor, die nun in die Modelle einfließen. Hinzu kommen Daten aus Laborexperimenten und numerischen Simulationen. „Solche Wahrscheinlichkeitsmodelle lassen sich auch auf andere Naturkatastrophen anwenden“, ist sich Gert Zöller sicher. Und so ist seine Mitarbeit immer dort gefragt, wo Risiken ab- und Gefährdungslagen eingeschätzt werden müssen. An der Uni Potsdam sind das zum Beispiel das Graduiertenkolleg „NatRiskChange“, aber auch andere Projekte, die sich mit den komplexen Problemen des Klimawandels und dessen dramatischen Folgen befassen.

Der Forscher

Apl. Prof. Dr. Gert Zöller studierte Physik in Bonn, promovierte und habilitierte an der Universität Potsdam, wo er seit 2018 eine außerplanmäßige Professur für Angewandte Mathematik bekleidet.
E-Mail: gert.zoelleruni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2022 „Mensch“ (PDF).