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Präventiv gegen Hass – Wie das Programm „HateLess“ Jugendlichen dabei hilft, ihre Schule von Hatespeech zu befreien

Illustration zum Projekt „HateLess“: Ein Finger (rot) zerquetscht eine Person unter einer Tastatur. Die Illustration ist von Andreas Töpfer.
Image : Andreas Töpfer
Präventiv gegen Hass – Wie das Programm „HateLess“ Jugendlichen dabei hilft, ihre Schule von Hatespeech zu befreien

Wer durch die Kommentarspalten von Nachrichtenplattformen scrollt, wünscht sich mitunter, es gäbe eine Löschtaste, mit der sich all die Hassmails, Beleidigungen und Drohungen entfernen ließen, um wieder sachlich miteinander diskutieren zu können. Der diesjährige Gewinner des an der Uni Potsdam verliehenen Better World Awards, Dr. Julian Risch, hat hierfür tatsächlich eine Lösung gefunden: ein maschinelles Lernverfahren, das die toxischen Kommentare automatisch herausfiltert, sodass ein Moderationsteam über deren Entfernung entscheiden kann. Für die Kommunikation im Netz ein Riesengewinn! Die Hetze ist damit aber nicht verschwunden, sondern eben nur ausgeschaltet, für einen Moment und einen definierten Raum.

Was es bedeutet, Hassäußerungen nicht entfliehen zu können, sondern tagtäglich und in immer krasseren Formen mit ihnen konfrontiert zu werden, beschreiben Schülerinnen und Schüler, aber auch deren Lehrkräfte in einer aktuellen Studie zu Hatespeech an deutschen Schulen. Die Potsdamer Bildungsforscher Dr. Sebastian Wachs und Prof. Wilfried Schubarth versuchen darin, gemeinsam mit ihrem Cottbuser Kollegen Prof. Ludwig Bilz, die Risikofaktoren für Hass und Hetze festzumachen und aufzuzeigen, was Lehrende und Lernende konkret dagegen tun können. Noch sind nicht alle Daten ausgewertet. Das Problemerschien den Forschenden jedoch so drängend und herausfordernd, dass sie parallel ein Präventionsprogramm auf den Weg gebracht haben.

„HateLess“ – so der Name des Programms – trägt im Untertitel die Aufforderung „Gemeinsam gegen Hass“ und setzt damit auf die Stärke des Zusammenhalts in einer Klasse, einer Schule. Sebastian Wachs, der in Potsdam aktuell die Professur für Erziehungs- und Sozialisationstheorie vertritt, hat es mit seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Norman Krause und der Masterstudentin Marie Richter entwickelt. Angesprochen sind vor allem siebte und achte Klassen. In fünf Modulen sollen die Jugendlichen gemeinsam lernen, was Hatespeech so gefährlich macht, wie sie entsteht und welche Schäden sie anrichtet, um dann mit der richtigen Strategie dagegen ankämpfen zu können und die eigene Schule von Hass und Hetze zu befreien. Da ein Element auf dem anderen aufbaut, eignet sich das Programm besonders gut für eine Projektwoche. Ein bis ins Detail ausgearbeitetes Manual navigiert die Lehrerinnen und Lehrer durch das schwierige Terrain, gibt ihnen didaktisches Werkzeug an die Hand, erklärende Power-Point-Präsentationen, Animationsvideos und einen eigens produzierten Kurzfilm. Zur Seite stehen ihnen fünf Protagonisten: Anura, Bennet, Carla, Hamza und Laura. Sie sind es, die den einzelnen Modulen– dank der Zeichnungen von Karoline Becker – ein Gesicht geben. Gleichaltrige, die für die Schülerinnen und Schüler zu Vertrauten werden können und die Chance bieten, sich mit ihnen zu identifizieren. Dabei hilft es, dass die fünf ebenfalls gemeinsam in einer Klasse lernen und so verschieden sind, wie dies in heterogen zusammengesetzten Schulklassen heute Realität ist. Ihr sozialer, kultureller und familiärer Hintergrund wird hier ebenso wenig ignoriert wie ihre persönlichen Eigenschaften, Interessen und Erfahrungen. Teils haben sie selbst oder ihre Angehörigen Hass und Anfeindungen erlebt, wurden benachteiligt oder diskriminiert. Ihre Charaktere sind glaubhaft, ermöglichen Empathie und repräsentieren zugleich die Vielfalt der Lebenswirklichkeiten.

Bewusstsein schaffen

Im Programm führen sie Schritt für Schritt zu jedem einzelnen Etappenziel und begleiten die Schülerinnen und Schüler auf dem Weg zu einer von Hass befreiten Schule. Alles beginnt mit Claras Frage: „Ist das schon Hatespeech?“ Die Jugendlichen lernen, den Begriff abzugrenzen von verbaler Gewalt und Mobbing. An Beispielen begreifen sie, wie systematische Attacken in Worten, Bildern und Videos dazu animieren, jemanden in seiner Würde zu verletzen, nicht, weil man die Person nicht leiden kann, sondern weil sie Teil einer marginalisierten Gruppe ist, etwa der der Geflüchteten oder der Menschen mit Behinderungen. Hate Speech enthält stets eine Botschaft, eine Aufforderung zur Diskriminierung.

Wenn die Jugendlichen das verstanden haben, führt sie das zweite Modul zur Ursachenforschung und zur Frage nach den zugrundeliegenden Motiven. Sie reflektieren ihre eigene Gruppenzugehörigkeit und die Art, wie sie in ihr soziale Normenwahrnehmen. Aber: „Was ist schon normal?“, fragt Hamza provokant und fordert die Klasse dazu auf, die Vorstellungen von Normalität und Anderssein zu hinterfragen. Im Spiel mit vertauschten Rollen können die Schülerinnen und Schüler erspüren, wie es sich anfühlt, zu den Ausgegrenzten zu gehören. Spätestens an dieser Stelle ist es Zeit, über Hass im Netz zu sprechen, über Filterblasen, Echokammern, Clickbait und jene Online-Enthemmung, die es so einfach macht, unerkannt Grausamkeiten über das Internet zu verbreiten.

Im dritten Modul meldet sich Anura und behauptet: „Worte können spalten.“ Das Mädchen regt die Klasse dazu an, über die Folgen für die Gesellschaft nachzudenken. Mit der Methode des „World Cafés“ sollen die Schülerinnen und Schüler darüber diskutieren, wie Hatespeech ihre konkrete Lebensweltverändert, in der Schule, in Film und Musik, in den Social Media, beim Spielen, im Sport, wo auch immer. Ist das Lernziel dieser Etappe erreicht, werden sie das Gefahrenpotenzial für die Demokratie und die Meinungsfreiheit erkannt haben. Auch werden sie an einem konkreten Vorfall nachvollziehen, wie tief Worte persönlich verletzen können, indem sie die Perspektive der betroffenen Person einnehmen und sich in ihre Gefühle hineinversetzen. Ist man selbst beleidigt worden, hilft es, sich ein dickes Fell zuzulegen. Im HateLess-Programm bedeutet das, sich der inneren und äußeren Ressourcen bewusst zu werden, Hilfe und Beratung zu suchen oder zumindest zu wissen, wo sie im Ernstfall zu finden sind.

„Auf jede und jeden kommt es an“, weiß auch Bennet und lenkt im vierten Modul die Aufmerksamkeit der Klasse auf den richtigen Umgang mit dem Problem. Der Begriff Zivilcourage kommt aufs Tableau. Die Jugendlichen diskutieren, wie man in Hatespeech-Situationen couragiert eingreifen kann, und erproben im Rollenspiel, welche Reaktionen am besten funktionieren. Sie lernen, Konflikte sozialverträglich auszutragen, sich fair zu streiten und konstruktive Lösungen anzustreben. Ziel des Moduls ist es, eine HateLess-Klasse zu werden. Dafür braucht es Regeln und ein solidarisches Miteinander, wissen die Jugendlichen. Auch die Reflexion des bisher Gelernten wird ihren Zusammenhalt stärken.

Wenn mehrere Klassen das Programm bis zu diesem Punkt erfolgreich durchlaufen haben, können sie sich zusammenschließen und ihre Schule zu einem Ort ohne Hass umgestalten. Laura regt deshalb im fünften Modul die Gründung einer schulischen Interessengemeinschaft an, den Aufbau einer HateLess-Ausstellung, die Produktion von Infoflyern oder einer Podcast-Folge. Es gibt viele Optionen, das neue Wissen in die Schulöffentlichkeit zu tragen und sich klargegen Hatespeech zu positionieren. Das Wichtigste jedoch ist, dass es in der Gemeinschaft geschieht.

Das Projekt

ERASED – Entwicklung eines Präventionsprogramms gegen Hatespeech unter Jugendlichen
In Kooperation mit dem Deutschen Forum für Kriminalprävention

Gefördert vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz
Laufzeit: 3/2021–12/2022

www.uni-potsdam.de/en/erziehungstheorien/forschungsprojekte/erased

Die Forschenden

Dr. Sebastian Wachs studierte Erziehungswissenschaften und promovierte in Bremen. Derzeit vertritt er die Professur für Erziehungs- und Sozialisationstheorie an der Universität Potsdam.
E-Mail: sebastian.wachsuni-potsdamde

Norman Krause, M.A., studierte in Potsdam Erziehungswissenschaft/Politik und Verwaltung sowie in Berlin Bildungswissenschaften. Jetzt ist er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Erziehungs- und Sozialisationstheorie tätig.
E-Mail: normankrauseuni-potsdamde

Marie Richter, B.A., studiert Bildungswissenschaften an der Freien Universität Berlin und arbeitet als Wissenschaftliche Hilfskraft an der Professur für Erziehungs- und Sozialisationstheorie der Universität Potsdam.
E-Mail: mariericuni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2022 „Zusammen“.