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Liebe auf Mittelhochdeutsch – Wie mittelalterliche Minnedichtung Wissen über die Liebeswerbung vermittelte

Dr. Julia Rüthemann (l.) und Prof. Dr. Katharina Philipowski (r.) im Interview. Das Foto ist von Tobias Hopfgarten.
Faksimile des Codex Manesse. Das Foto ist von Tobias Hopfgarten.
Photo : Tobias Hopfgarten
Dr. Julia Rüthemann (l.) und Prof. Dr. Katharina Philipowski (r.).
Photo : Tobias Hopfgarten
Faksimile des Codex Manesse

Wer die Tür zu Katharina Philipowskis Büro öffnet, betritt scheinbar eine andere Zeit. Frühneuzeitliche Porträts und Reproduktionen von beeindruckenden mittelalterlichen Handschriften schmücken die Wände des gemütlichen Zimmers auf dem Campus Am Neuen Palais. Über dem braunen Ledersofa hängt ein großer, rot-goldener Wandteppich, der eine allegorische Szene zeigt: Eine Dame nimmt eine Nascherei von einem Teller, den ihr eine Dienerin reicht. Um sie herum sitzen ein Einhorn und ein Löwe, zu ihren Füßen ein Affe, der etwas isst. Der Teppich, eine Nachbildung des Millefleurs-Wandbehangs „Die Dame mit dem Einhorn“ aus dem 15. Jahrhundert, stellt bildlich einen abstrakten Begriff dar, nämlich den Geschmackssinn.

Allegorien wie diese spielen im Forschungsprojekt „Ich – Minne – allegorisch“ eine große Rolle. Katharina Philipowski, Professorin für Germanistische Mediävistik, und ihre Wissenschaftliche Mitarbeiterin Dr. Julia Rüthemann untersuchten darin zwei mittelhochdeutsche und zwei altfranzösische Texte aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Es handelt sich um mittelalterliche Dichtungen, die in der ersten Person geschrieben sind, sich mit Minne befassen und Allegorien nutzen. „Dieser Texttypus findet sich europaweit“, erklärt Philipowski. „Anhand der vier ausgewählten Texte haben wir eine Art Tiefenbohrung gemacht.“

Die mittelalterliche Liebe ist universell

Minne – das war im Mittelalter die dienende Liebe eines Ritters zu einer höfischen Dame. Die Rollen zwischen Männern und Frauen sind hier klar verteilt. Alle vier Dichtungen kreisen um Liebe, genauer gesagt um die richtige Art des Liebens. So wird in der „Minnelehre“ von Johann von Konstanz aus dem frühen 14. Jahrhundert der Ich-Erzähler plötzlich von der Liebe zu einer Frau übermannt und fällt in einen tiefen Schlaf. Im Traum begegnet er allegorischen Figuren: Cupido, der nackt mit Fackeln und einem Speer erscheint, und Minne mit Pfeil und Bogen – die sie dann auch einsetzt:

si spien ir bogen hivrnin
vnd schoz mich in daz herze min,
daz mir tet diu strale we
vnd ich holder wart den e
miner lieben vrowen vil.

Sie spannte ihren Bogen aus Horn
und schoss mir in mein Herz,
so dass mir der Pfeil weh tat
und ich meiner lieben Dame
noch holder wurde als zuvor.

Als Stimme seines Herzens erklärt Minne dem Ich von nun an, was es zu tun habe, um die Geliebte zu erobern. Die „Frau Minne“ steht also für das Wissen über die Liebe; sie hilft ihm, die Minnelehre umzusetzen. Zunächst einmal soll das Ich der Geliebten Briefe schreiben, was es nach dem Erwachen prompt tut. Die Liebeswerbung geht schließlich so weit, dass „Frau Minne“ das Ich auffordert, die geliebte Dame zu überwältigen, und wieder gehorcht es.

Auch wenn solche Szenen nicht gerade typisch für die Minnedichtung sind, könne Werbungsliebe durchaus aggressiv sein, erklärt Philipowski: Es gehe darum, die Scham der Dame abzubauen und ihre Gunst zu gewinnen. Dies geschieht aber vor allem über Sprache. „Werben ist dichten ist lieben“, sagt Julia Rüthemann. Die Kunst der Liebe ist etwas Objektives, etwas, das sich als Lehre beschreiben lässt. Und zur Liebeskunst gehört es nicht nur, die Liebe in Worte zu fassen – also etwa Briefe zu schreiben –, sondern auch sein ganzes Leben in den Dienst der Werbung zu stellen, der Geliebten absolute Treue zu versprechen und in den Liebesbemühungen keinesfalls nachzulassen.

Der Weg ist das Ziel

In der mittelalterlichen Minnedichtung geht es jedoch nicht um individuelle Liebesempfindungen wie später in der Romantik oder in der heutigen Literatur. Vielmehr sind die Werke Liebesanleitungen, die für jeden Liebenden gelten. „Das Ich ist eine Hohlform, ein Ärmel, in den die Rezipierenden hineinschlüpfen sollen“, erklärt Katharina Philipowski. „Die Liebe, die ich empfinde, ist die Liebe als solche; sie ist universell und nicht subjektiv.“

In „Die Jagd“ von Hadamar von Laber, ebenfalls aus dem 14. Jahrhundert, wird die Liebeswerbung in Form einer Jagd allegorisiert. Das Ich zieht mit vier Hunden in den Wald aus, um einen Hirsch zu erlegen. Die Hunde sind wieder Stellvertreter, sie heißen „herze“ (Herz), „triuwe“ (Treue), „fröide“ (Freude) und „stæte“ (Beständigkeit). Im Wald trifft das Ich zunächst auf andere Personen, mit denen sich wiederum Dialoge über das Wesen der Liebe entspinnen – vor allem darüber, was es bei der Werbung zu unterlassen gilt: Der Liebende darf zum Beispiel weder unehrlich noch unbeständig sein und sich nicht am Klatsch am Hof beteiligen. Schließlich spüren die Hunde den Hirsch auf, der für die umworbene höfische Dame steht. Dabei wird jedoch der Hund „Herz“ verletzt. Beendet wird die Jagd nicht. Für Minnedichtung gilt nämlich meist: Der Weg ist das Ziel.
Im altfranzösischen „Birnenroman“ von Thibaut aus dem 13. Jahrhundert trifft das Ich unter einem Birnbaum auf eine Dame, die in eine der Früchte beißt und sie dem Liebenden reicht.

En la poire mors sanz congié;
se g’eüsse devant songié
la force qui estoit en lui,
dont j’ai puis soffert main ennui,
ge ne l’eüsse ja baillé.

In die Birne biss ich ohne Umschweife;
wenn ich vorher an die
Kraft gedacht hätte, die in ihr war,
von der ich seither viel Leid erfahren habe,
hätte ich sie niemals angenommen.

„Der Text umkreist diese Szene, in der sich der Atem des Ich mit dem der Dame vermengt“, beschreibt Julia Rüthemann.

Im vierten und letzten Text, Guillaume de Machauts „Urteil des Königs von Böhmen“ aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, erzählt ein Ich, wie es ein Gespräch zwischen einem Ritter und einer Dame belauscht. Sie debattieren darüber, wer größeres Liebesleid erfährt: der Ritter, der von seiner Geliebten betrogen wurde, oder die Dame, deren Geliebter tot ist. Das Ich schlägt schließlich den König von Böhmen als Richter vor. Im Gespräch mit personifizierten Allegorien gelangt der König zu dem Urteil, dass der Ritter recht hat.

Solche Minne-Dichtungen wurden, genauso wie die Minnelieder, vor allem über den mündlichen Vortrag verbreitet: „Sänger und Musiker trugen sie bei Festen vor höfischem Publikum vor. So zeigen es jedenfalls Darstellungen aus überlieferten Büchern“, erklärt Philipowski. Sie vermittelten Wissen über die Liebeswerbung, aber auch moralische Vorstellungen. Hatte die Minnedichtung also auch einen didaktischen Sinn? „Es gibt die Theorie, dass mit der hohen Minne wilde Kriege am Hof bezwungen werden sollten“, erklärt die Germanistin. Doch Philipowski ist skeptisch, dass sich die Adeligen von Literatur zähmen und unterwerfen ließen. Und damals wie heute war die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit klar gezogen: Was in der Dichtung galt, konnte in der Realität ganz anders aussehen. „Es ist eher ein literarisches, ein intellektuelles Spiel.“ So werfen die Dichtungen teils ironische „Minnefragen“ auf wie: Darf eine Dame den Liebhaber zurückweisen, nur weil sie verheiratet ist? Sollte sich der Liebende für die obere oder die untere Hälfte der Dame entscheiden? „Es geht um eine Selbstvergewisserung der höfischen Werte, wofür die adelige Frau Projektionsfläche ist“, sagt Julia Rüthemann.

Ich-Erzähler damals und heute

Die Literaturwissenschaftlerinnen haben sich auch Gedanken darüber gemacht, ob die von ihnen untersuchten Texte aus der Ich-Perspektive Vorläufer heutiger Erzählungen sein könnten, die doch so häufig die erste Person nutzen. Sicher sind sich die Forscherinnen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Ich-Perspektive, der Allegorie und der Diskursivität der mittelalterlichen Texte gibt – also der Tatsache, dass mehr gesprochen als erzählt wird. Denn die Dialoge, die sich zum Thema Liebe entspinnen, dominieren alle von ihnen untersuchten Werke.

„Die Konzeption des Ich war damals eine ganz andere als im 21. Jahrhundert“, erklärt Philipowski. „Heute spricht das Ich in der Literatur von sich selbst, es versteht sich als einzigartig.“ In der mittelalterlichen Literatur ging es dagegen um universelle Emotionen. „Die Grenzen des Ich waren offener oder vielleicht gar nicht vorhanden“, sagt Julia Rüthemann. In Dantes „Gastmahl“ etwa äußert sich der Autor über Literatur und erklärt, dass es anrüchig sei, von sich selbst zu sprechen – es sei denn man tue das, um anderen zu nützen. „Keiner Autorin des 21. Jahrhundert würde so etwas einfallen“, so Philipowski.

Warum es dann aber überhaupt ein Ich gibt, das zu den Rezipierenden spricht? „Die Erfahrung von Liebe, Natur oder Armut ist dadurch unmittelbarer“, sagt Philipowski. „Und auch die Wissensvermittlung ist direkter.“ Gleiches gilt für die Dialoge und die Allegorien, die mit ihrer Bildhaftigkeit eine Nähe zu den Rezipierenden herstellen. Julia Rüthemann sieht die Ich-Form außerdem als Möglichkeit, über das Dichten selbst nachzudenken: „Das Ich inszeniert sich als poetisches Ich und reflektiert damit seine Autorschaft“, sagt sie. „Ja, darin geht es um einen ästhetischen Geltungsanspruch, im Sinne einer Meisterschaft“, ergänzt Philipowski. „Nicht darum, etwas Einzigartiges zu schaffen, sondern etwas, worin sich die Rezipierenden wiederfinden.“

Die Ergebnisse ihres Forschungsprojekts veröffentlichen die Forscherinnen im Florida University Verlag und in der Onlinezeitschrift „Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung“. Die Literaturwissenschaftlerinnen hoffen, mit der englischsprachigen Publikation ein größeres Publikum auch in Europa zu erreichen, um mehr über diesen Texttypus als europäisches Phänomen des Mittelalters zu erfahren. Denn ähnliche Dichtungen fänden sich auch in der italienischen, spanischen und englischen Literaturgeschichte – und nicht nur zum Thema Minne, sondern auch geistliche Texte oder philosophische Traktate nutzten die Ich-Form, Dialoge und Allegorien.

Doch wie steht es eigentlich um die liebenden Frauen im Mittelalter? Gab es auch Liebesanleitungen für die höfische Dame? Julia Rüthemann, die ihre Dissertation zum Motiv des Herzens in der mittelalterlichen Literatur geschrieben hat, wird auf den bisherigen Erkenntnissen in einem neuen Forschungsprojekt aufbauen. Es führt sie als Feodor-Lynen-Stipendiatin nach Paris ans Centre de recherches historiques: Dort wird sie die „Weibliche Autorschaft in allegorischen Ich-Erzählungen“ bei Christine de Pizan und Hadewijch von Antwerpen erforschen.

Das Projekt

Ich – Minne – allegorisch. Eine komparatistische Untersuchung mittelhochdeutscher und altfranzösischer allegorischer Minne-Erzählungen in der ersten Person.

Laufzeit: 2016–2021
Gefördert: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
Beteiligt: Prof. Dr. Katharina Philipowski, Dr. Julia Rüthemann

Die Forscherinnen

Prof. Dr. Katharina Philipowski studierte Politikwissenschaft und Germanistik an der Universität Stuttgart. Seit 2018 ist sie Professorin für Germanistische Mediävistik an der Universität Potsdam.
E-Mail: katharina.philipowskiuni-potsdamde

Dr. Julia Rüthemann studierte Deutsche Philologie und Biologie für das Gymnasiallehramt in Göttingen, Besançon und Lund sowie Medieval Studies in Toronto. Sie promovierte2017 an der Universität Mannheim.
E-Mail: julia.ruethemannuni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2022 „Zusammen“.